Tagebuchblatt 17. Januar 2019
Heute legt sich ein bleischwerer Mantel auf mein Gemüt. Ist der Völkermord der NS- Zeit des 20. Jahrhunderts durch nichts wieder gut zu machen, durch keine Einsicht, durch keine Entschuldigung, durch keine Sühne? Das wenigste, was zu tun ist, wäre doch das Hinschauen mit offenen Augen, ohne Angst, ohne Verlangen, ohne Erwartung auf Vergebung oder Ähnlichem. Aber genau das wird von den meisten Deutschen doch nicht geleistet? Man hat fast den Eindruck, sie erwarten noch Mitleid oder Beistand für die Mordtat ihrer eigenen Ahnen. Und so rauschen wir im Dunst einer fatalen Lebenslüge in einen dumpfen Vernichtungswahn gegen uns selbst. Scheinbar gegen andere, wie Ausländer, Alte und Arme, Dumme und Faule, richtet sich dieser Wahn aber gegen uns selbst. Ablehnung von Auseinandersetzung weicht übermäßigem Essen, Trinken, Shoppen, Reisen, Fotografieren, Feiern, Fitness-Training, Schönreden und suchtartigem Verlangen nach Kurzweil. Es zeigt sich ein verändertes Straßenbild. Es wird nicht mehr gegrüßt, gefragt oder Rücksicht genommen. Wenige Kinder auf den Straßen, kaum Fußgänger, außer in den Cities. Wir sitzen an den Bildschirmen oder schauen auf’s Handy. Wohin führen uns diese Herzlosigkeit im Nebel schwindender Selbstwahrnehmung?
Wie kann es nur sein, dass wir so derartig spät erkennen, in welchem Land wir eigentlich groß geworden sind. Selbst in meinem Buch Ahnensog, das ich schrieb, als ich bereits über sechzig Jahre alt war, habe ich mich nur wenig mit dem Holocaust auseinandergesetzt. Jeder Deutsche müsste bereits spätestens in der Schule mit diesem bleischweren Verbrechen des eigenen Volkes in verantwortungsvoller Weise konfrontiert werden. Nichts ist uns berichtet worden, weder zu Hause, noch in der Schule, schon gar nicht im Konfirmandenunterricht der christlichen Kirche, die doch Nächstenliebe predigt. Wir sind diesbezüglich blind und taub groß geworden und die meisten haben bis heute kein Wissen vom Völkermord der Deutschen im Dritten Reich.
Wird denn heute aufgeklärt? Nur von zu wenigen Menschen, die Wahrheitsliebe und Verantwortungsbewusstsein zur Voraussetzung für ein freies geistiges Leben fordern, wurde und wird Licht auf dieses wohl dunkelste aller Kapitel der Geschichte geworfen. Trotz exzellenter Recherchen führt auch diese wertvolle Arbeit weiterhin eher ein Nischen-Dasein, blüht vorwiegend im Verborgenen und unsere Ignoranz schwelt weiter und weiter. Regierung und Medien unterstützen ohnehin gern aus Eigennutz das Verdrängen von Wahrheit zugunsten verkappter Nachrichten, schlechter Aufklärung und billigster Unterhaltungssendungen am geliebten Fernsehschirm. Die Kirche war immer bewusster Gehilfe der Mächtigen, auch der NS-Herrschaft, und ist ebenso jetzt im Deckmantel verschlagener Beileidsbekundung Gehilfe aller Untaten, die den Menschen vom Menschsein abhält. Dass sie durch das Schreckgespenst von Schuld und Sühne weiterhin leichtes Spiel mit uns hat, ist genetisch und historisch fest verankert. Die Prägung durch dieses machtgierige Phantom ist in unserem Adergeflecht tief verwurzelt und lässt nur begrenztes Freiheitsbewusstsein zu.
Dass die Erde ihrem Untergang bereits entgegen taumelt ist allen bewusst, aber es wird nicht gehandelt. Dass Millionen Menschen täglich unter menschenunwürdigen Bedingungen auf der Flucht um ihr Leben bangen, ist allen bewusst, aber es wird nicht gehandelt. Dass Tausende täglich gar ihr Leben lassen, sprich ermordet werden, ist allen bewusst, aber es wird nicht gehandelt. In schäbiger Form angehäuften Reichtums, übelster Ausgrenzung, elitärem Gehabe, Vermarktung feinster Talente, kalter Egomanie und Zynismus schimmert die Fratze der nicht angeschauten Vergangenheit des Vernichtungswahns von uns Deutschen nur umso intensiver und beginnt bereits, gar nicht mehr so schwer erkennbar, sich erneut zu zeigen und zu entfalten. Zunächst in verschleierter, angeblich zivilisierter Form, was die Dummheit der ego-zentrierten Eitelkeit so ungeheuer unsympathisch erscheinen lässt, wird sich diese knallharte Manie des kopfgesteuerten Ichmenschen bald etablieren und nicht nur zu bedrückenden, sondern mehr als grauenvollen Verhaltensweisen führen.