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TARGET LOVE

TARGET/ TARGET LOVE

Hellwach. Mitten in der Nacht steht mir plötzlich das Wort target vor Augen. Ich soll es aufschreiben und gehe an meinen Schreibtisch.
Am kommenden Morgen erscheint mir das notierte Wort wie ein Begriff, der Macht über mich gewinnt und mit dem ich arbeiten soll. Nie gehört, keinerlei Emotion.
Ich blättere in unterschiedlichen Lexika, target: Substanz, auf die Strahlenenergie gelenkt wird, um in ihr Reaktionen zu erzielen (Atomphysik). Ja, wie eine solche Substanz empfinde ich mein Herz. Die Worte treffen mich. In englischer Sprache hat target diverse Übersetzungen: Ziel, Zielscheibe, Weichensignal, runder Schild.
Ein 80x100cm Format/ Leinwand wird mit einem großen Herzen aus Torf, Leim und Asche bearbeitet. Dichte, feuerrote Lichtglut tropft Lava gleich auf/ von/ durch mein Herz. Weiße schablonierte Holzkisten-Lettern markieren dieses Gebilde aus Glut und Hitze mit dem Schriftzug T A R G E T. Nach Abschluss des Bildes notiere ich die lexikalische Definition aus der Atomphysik auf seine Rückseite. Eine zweite zuvor plan mit Asche/ Leim grundierte Leinwand formt sich zu einer verschneiten, eiskalten Winterlandschaft T A R G E T 2, Zielscheibe der/ vor der Kälte, in mir, in euch. Draußen herrscht tiefer Winter und sendet mir fahles Licht für dieses kühle Bild.
Eine weitere Leinwand gestaltet sich dann an einem sonnigen Tag zu einem Geschenk. Ausnahmsweise erarbeite ich den zweiten Durchgang dieses Bildes bei Musik. Auf einem Asche-Leim-Grund, in den ich anderntags am Boden mit Armen und Fingern Spuren hinein geschrieben hatte, ergaben sich heute weiße Kreise einer Zielscheibe. Sie löst sich zur Spirale und entlässt eine Rose in die ruhig dahin fließende Umgebung, T A R G E T 3. Kleine Tiere und Pflanzenelemente bewegen sich durch ihre Wellen. Hier stand mir in einer Endlosschleife die Melodie Gavan (the gift) der CD Vandelmässa Pate, schönste Akkordeonmusik von Lars Hollmer. Es lag ein ungebrochener Zauber in der Luft. Ich wollte dieses lyrische Bild Lars Hollmer schenken. Er sagte lächelnd von sich: I am a romantic guy. Aber ich war zu spät. Was ich nicht wusste und erst im Internet bei meiner Suche nach seinen Daten entdeckte: am 26. 12. 2008 ist er mit 60 Jahren in Upsala gestorben. Sehr, sehr schade. Nun kann ich es ihm nur noch in Zuneigung widmen.
Einige Zeit später nehme ich den Tod von Kenneth Noland wahr, dem Pionier des Hard- Edge, auch des Colour-Field-Painting. Wieder geht ein großer Maler der amerikanischen Pop-Art. Seine Streifen, seine Buchstaben, seine Kreise, ja natürlich! Noland wird in einem Nachruf der König des Target-Painting genannt. Dass ich den Begriff jetzt erst über meine nächtliche Eingebung entdecke. Mir waren diese Kreise einer Zielscheibe als abstrakte Formen nie so recht zugänglich. Zudem hatten mich damals die Maler der Pop-Art als abstrakte Künstler wenig interessiert. War ich da Besseres gewohnt aus unserer europäischen Geschichte, etwa die russischen Konstruktivisten, das Bauhaus u.a.? Aber vielleicht, genau wie bei Jasper Johns, eben amerikanisch. Zielscheibe, Krieg, Indianer, Schild als Schutzwaffe, Spiele, Atom, Schilder? Bei einem Besuch der Retrospektive von Ed Ruscha im Haus der Kunst/ München  erfahre ich, dass die Targets and Flags von Jasper Johns Ed Ruscha dazu bewegt hatten, Künstler zu werden. Eigentümlich stark bewegen mich diese Gedanken. Dass drei Giganten der amerikanischen Pop- Art sich mit dem Thema target beschäftigten.
In einer Nacht nun erscheint target mir und fordert mich unmissverständlich auf, eine Gestalt für diesen Begriff zu finden. Steckt in dieser Aufforderung nicht vor allem die Absicht, –neben der Tatsache, dass target ein abstraktes Gebilde ist,– mich endlich dem Lebenskampf realistisch zu öffnen? Wie die Härte des Lebens von den Amerikanern immer einen starken Realitätsbezug abverlangte, fordert es nun auch von mir, der verträumten Romantikerin des alten Europa, eine entschiedene Stellungnahme? Zumindest lese ich diese mich beunruhigende und positiv zwingende Aufforderung aus der target-Definition für Atomphysik heraus. Sicherlich würden die Target-Maler schnauben, läsen sie meine Gedanken, übrigens alles große, kräftige Männer, die ungern viel Worte machen. …… Es warten schon drei weitere Leinwände auf Target Color, vorbereitet mit Asche, schwarzer Ölfarbe und aufgelegtem Korallenstaub vom Saum des südlichen Mittelmeeres.  3/2010
Diese Gedanken zu target schrieb ich im März 2010 nieder. Im Juni desselben Jahres startete ich mit der Niederschrift Notes of a woman, woraus später das Buch Ahnensog entstandIn dieser Zeit fielen mir diverse Bücher und Gedanken von Frauen in die Hände, die mich berührten, Philosophinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen. Ich entdeckte mit einem Mal in hellstem Bewusstsein, dass ich meine künstlerische Energie und meine Sicht auf die Welt aus der weiblichen Perspektive vertreten und kundtun möchte, dass ich meinem Drang nach dem Feuer der Freiheit besonders als Weib Ausdruck verleihen will, vielleicht gar muss. Ich verspürte eine unbändige Lust, niederzuschreiben, was mich bisher daran gehindert hatte, das Leben aktiv zu nehmen, gar in Optimismus und Freude zu wachsen und mich wirklich zu entfalten. Eine Aussage der jüdischen Dichterin Muriel Rukeyser, dass jede Frau ihre Geschichte erzählen oder aufschreiben solle, da sich dann für uns der Himmel auftuen werde, traf mich messerscharf und berührte mich tief. Sie war letztlich der zündende Anstoß zu einem Vorhaben, mich über eine längere Zeit ins Café zu begeben und in einem ausdauernden handschriftlichen Schreibfluss meine Geschichte nieder zu schreiben.
Nach etwa zehn Jahren, im aktuellen Jahr 2019, entstehen nun erneut zwei Bilder zu dem Phänomen target. Die Geschichte der Niederschrift Notes of a woman bzw. Ahnensog von 2010 erwähne ich heute, da ich mein erneut aufflammendes Interesse an target beleuchten möchte. Die bildnerische Arbeit von target lag ja damals zeitlich kurz vor dem Beginn der NiederschriftWar target der Auslöser von Ahnensog, dem Phänomen eines Umbruchs? Ja, so will ich es sehen. Und da es mich nun 2019 wieder, ähnlich wie damals nach dem Traumbild, mächtig mitnimmt, schaue ich nach Abschluss dieser Arbeiten voller Neugier in den Tagebuchtext von 2010.
Ich möchte wissen, was mich damals bewog, target zu erarbeiten, um eher zu begreifen, was mich wohl dieses Mal leitete und was ich dann eventuell zu erwarten habe. Es ist eher ein existenzielles als ein analytisches Interesse. Mein Herz schlägt voller unruhiger Freude, wenn ich den Eintrag von damals lese.Besonders die lexikalische Definition nimmt mich erneut gefangen: targetSubstanz, auf die Strahlenenergie gelenkt wird, um in ihr Reaktionen zu erzielen (Atomphysik). Ich malte ja damals als erstes auf einem feuerroten Feld ein großes Herz aus Asche, das gespalten, gesprengt und beeinflusst wurde. Interessanterweise male ich nun wiederum zweimal ein großes Herz. Jetzt aber weitaus größere Herzen, die zudem in ihrem Innern wiederholt werden und so, zusätzlich durch ihre eher kühle Farbgebung, von nahezu imperativem Charakter sind. Die sehr deutliche Aufschrift mit den schablonierten Holzkisten-Lettern von damals lautet jetzt nicht T A R G E T sondernT A R G E T L O V E.
Aktuell befand ich mich ähnlich wie 2010, bevor ich die Bilder malte, in einer über lange Zeit sich ausdehnenden erheblichen Malaise. Anhaltender Leidensdruck durch körperliche Beeinträchtigungen, innere und äußere Auseinandersetzung mit Alter und Tod, bedrückende Rückschau auf das eigene Leben in Hinblick auf sein nicht mehr allzu weit entferntes Ende, Sinnfragen nach Qualität und Bedeutung der eigenen Kunstproduktion, Krankheiten und Tod innerhalb von Familie und näherer Bekanntschaften, desaströse Zustände in Gesellschaft und Politik. Es wühlte und wucherte, spitzte sich in Dramatik und Erträglichkeit über lange Zeit derart zu, dass etwas geschehen musste, um zu krachen, sich erneut durchzusetzen oder ähnliches. Ich empfand mich wie eine Substanz, die ich nicht mehr beherrschen konnte. Strahlenenergie wurde auf mein Herz gelenkt, um in mir Reaktionen zu erzielen. >>>>
>>>> Es entstehen dann unerwartet diese zwei nahezu mächtigen Bilder, T A R G E T   L O V E  und T A R G E T  L O V E  2.  In ihrem eher männlichen Charakter überraschen sie mich. Das Herz, das ich damals 2010 verwandte, wird dieses Mal nicht nur bildnerisch sondern auch verbal fast aufdringlich aufgezeigt. Es geht nicht mehr um mein schönes kleines Herz aus warmem Fleisch und rotem Blut. Weniger Zielscheibe, Schild oder Weichensignal, nicht die kleine empfindliche Liebe, die erwartet, rechnet, lauert, wünscht und hofft. Es geht um das spirituelle Herz, das für die große Liebe steht und sich nach allen Dimensionen ausdehnt und ausbreitet, sich als target wie eine kreisende Spirale bewegt und bis in die Unendlichkeit weitet, bis nichts mehr vom stofflichen Dasein übrig bleibt, das uns Anlass gäbe zu jammern und zu klagen. Die Ebene des Ich löst sich auf und nichts ist mehr von irgendeiner Bedeutung außer LOVE.
Nun kann ich in Gelassenheit schauen, was auf mich zukommen wird.