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Die Geburt eines Poems

Die Geburt eines  poems.
Was ist, wenn eine Gefühlsbewegung so stark ist, dass sie dich wegreißt, nicht literarisch warten kann, sondern dich schlicht attackiert? Wenn sie danach schreit, auf der Stelle erhört zu werden, und zwar pur, ohne wenn und aber? Dann ruft sie allenfalls nach knappster Gestaltung, einfach genau so auf dem Papier zu landen, wie sie gerade auf dein Gemüt springt. Wenn ein Affekt dich überschwappt und dermaßen überspannt, dass du ihn nicht mehr erträgst, reimt sich seine drängende Macht in dir auf der Stelle zu einem poem.
Dieser Vorgang feinsinniger Raserei hat einen Vorlauf. Der Embryo des poems trägt den Namen emotion. Vor oder gar sehr lange vor der vehementen Aufforderung des überfallartigen Affektes eines poems entstehen in dir unterschwellig eine Reihe unverfälschter Auslöser verwandter kleinster Gemütsbewegungen und brauen sich zusammen. Das System der Vernunft wird durch sie zunächst immer nur leicht verunsichert. Bald aber wird es durch die Ballung von zuvor unbeachteten Kleinstemotionen in die Enge getrieben und schließlich nahezu ausgehebelt. Du bist mental nicht mehr in der Lage, mit gewohnten Reaktionen zu arbeiten und musst jetzt das Klettengewebe aus aufgestiegenen Stimmungsfetzen erhören. In seiner Dichte lässt dieses laute Substrat, eine fast herrische Energie, es nicht mehr zu, von dir unter den Teppich gekehrt zu werden. Du bist gezwungen zu handeln.
Das ist die Geburtsstunde des emotion. Ein emotion ist eine Ergebnisform von im Keim verbotenen Reaktionen. Du untersagt den intensiven Gefühlsbewegungen in ihrer Entstehungsphase, sich zu artikulieren. Sie dürfen sich nicht zeigen, um in einer neuen Gestalt deinen Körper zu verlassen und in gewandelter Eigenschaft eventuell jemandem zu begegnen. Sie hätten sich in einer derart von dir genehmigten Gestaltwerdung auf zwischenmenschlicher Ebene tummeln und auseinander­setzen können, um auf diese schöne Weise tanzend zu zerrinnen. Was ja ihr größter Wunsch ist. Auch ein emotion will sterben dürfen.
Aber was machst du mit der feinen aufsteigenden Gefühlsregung? Schon als Wurzeltrieb tötest du sie ab. Da sie aber als eine frisch geborene Energieform nun einmal da ist, kann sie nicht einfach wieder verschwinden. Unmöglich. Da ist da. Durch deinen Versuch, diese unverbrauchte emotionale Regung abzudrängen, erhält sie ihren ersten Stempel: du bist nicht erwünscht. Du bist nichts wert.  Sie zieht sich in Trauer zurück und verkriecht sich grollend in einer Zelle deines Körpers. Dort wartet sie angespannt auf einen Bruder oder eine Schwester. Dein rigides System sendet ihr sehr bald ein Geschwister-emotion. Sie suchen sich Gleichgesinnte, um zu überleben. Sie raufen sich zusammen, um ihre Energie zu steigern. Es lagern tausende von ungehörten Feinst-emotions in deinen Zellen und lauern lodernd auf Gelegenheiten. Ist deren Ballung groß genug und ausreichend intensiv geladen, drängen sie in diesem Verband bei der ersten Krise deiner Achtsamkeit nach vorn, befreien sich auf drastische Art und Weise aus ihrer Haft und schießen gleichsam hervor.
Für dich ist damit die letzte Chance gekommen, dem enormen Affekt endlich Freiheit zu gewähren. Er tobt in deinem Innern und verschafft sich unnachgiebig Gehör. Wenn du das Phänomen jetzt in dieser intensivierten neuen Form ein zweites Mal verschmähst, wirst du unweigerlich aus dem Lot deines Systems geworfen und gezwungen, Position zu beziehen. Also wird ein Mensch, der nicht untergehen will, diese letzte Gelegenheit nicht versäumen und es mit Mut und Entschlossenheit begrüßen. In ergebener Achtung wird er der Atta­cke eine Form gewähren, in die sie hinein fließen darf, um sich nun endlich zu entspannen, sich derart vielleicht vermitteln zu können und schließlich doch noch sterben zu dürfen.
Die Äußerungsform, die sich für ein derart spannungsgeladenes emotion in mir ergibt, ist ein poem. In den Buchstaben und Silben, die ich für seine Geburt finde und erspüre, kann es noch amorph zunächst einfach schweben und schwimmen. Langsam entwirrt sich das Kon­strukt, flüstert mir ganze Worte zu und ist in der La­ge, aus seiner Inhaftierung zu weichen. Es wird befreit von seinem Drang, zu attackieren. Es kann sich jetzt quasi entpuppen und eine neue Gestalt annehmen. Durch meinen Stift fließt die gewandelte Form.
Ein poem erblickt das Licht der Welt und genießt zunächst Ordnung und Stille von Rechteck und Papier.