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Die Orange


Tagebuchblatt, 10. Januar 2020

Die Orange

Ein nächtlicher Traum von einem Todesfall und von meinen Tränen. Morgengrauen. Seit Tagen ist es draußen nassgrau, tief bewölkt, stumm und kühl. Im Bademantel mit verschlafener Miene betrete ich die Küche, um pflichtgemäß einige Tabletten und Säfte für den Erhalt meiner Gesundheit im Alter zu schlucken. Da erblicke ich eine prächtige Orange auf dem Küchentisch. Wie vom Blitz getroffen kommen mir Tränen: „Das Orange, sieh‘ doch mal, dieses leuchtende Orange!“ Zärtlich umschließe ich die runde Frucht mit meinen Händen, nehme sie auf, betrachte und rieche sie, meine Finger ertasten ihre feste unebene und zugleich glatte Schale. Meine Malerei kommt mir in den Sinn, die tiefe Liebe zu den Farben. Mein Gaumen erahnt ihr frisches, saftiges Fleisch, das darauf wartet, mich zu verwöhnen. Klagend fällt mir ein, dass ich die fruchtige Pracht niemals zu Gesicht kriege, da wir das schöne Obst immer sogleich in die kühle dunkle Kammer sperren und ich das von meinem Liebsten bereits geschnittene Obst am Morgen in einer Schale zu mir nehme. „Sieh doch mal dieses Orange!“ jammere ich laut und klage über die Schönheit dieser Frucht. „Lege mir bitte nur diese Apfelsine mit einem Messer auf den Tisch, dann bin ich zufrieden,“ meutere ich.
In der Kargheit der Wintermonate, dem häufig trüben Alltag ohne jegliche Farben, den blätterlosen Bäumen, überkommt mich diese pralle Frucht wie ein mahnendes Zeichen des Lebendigen. Es nützt mir momentan nichts, zu argumentieren, dass es in der Wohnung zu warm ist, um das Obst im Raum aufzubewahren, dass ich die Struktur des Geästs unserer großen Bäume im Winter doch tief verehre und anderes mehr. Ich leide eben beim Anblick dieser Orange, die ich nicht aus der Hand legen mag. Mich durchzieht die Lust, mit satten duftenden Ölfarben den festen Stoff einer gespannten Leinwand zu bestreichen, der Geruch leuchtender Zitronen- und Apfelsinenbäume des Südens, zudem denke ich an den Wahn unserer Zerstörung der Erde. Warum sperren wir denn die Früchte der Natur auf unseren schönen Schalen immer weg? Ich will sie nicht nur in mundgerechten Stücken verspeisen und ihre häufig prächtigen Schalen in den Mülleiner werfen, sondern möchte sie auch betrachtend einatmen. Mir fällt eine üppige sizilianische Keramikschale aus meinem Elternhaus ein, die gefüllt mit schönem Obst gewöhnlich in der Speisekammer auf dem Kühlschrank stand. Auch sie war meinen Blicken entzogen. Nur zu Weihnachten erhielt die Obstschale einen Platz auf dem großen Familienesstisch, dann gefüllt mit Apfelsinen, Äpfeln, Mandarinen, Nüssen, Mandeln in der eigenen Schale, Feigen und Datteln. Diese bunte Keramik-Schale habe ich mir dann nach dem Tod meiner Eltern mit in meine Wohnung genommen, wo sie einen Platz auf einer Truhe fand, jeweils angereichert mit Obst und Gemüse der Saison. Diesem farbenprächtigen Stilleben mit frischen Gaben der Natur im seitlich einfallenden Licht eines alten Fensters des kühlen Hausflurs galt mein erster Blick, bevor ich meine Wohnung betrat. In der Aktion einer radikalen Lösung von allem Ererbten musste diese Schale dann dran glauben. Aber das frische Obst, seine Farben und seine Düfte. All dieses Schöne muss doch nicht dran glauben! Wie ein Kind seinen Ball wiege ich die Apfelsine in meinen Händen, bevor ich dann traurig die Küche verlasse, um mich der Morgentoilette zu widmen.
Was passiert nun wirklich. Warum diese radikale Emotionalität? Warum weine ich beim Anblick einer prächtigen Orange? Anstatt altersgemäß mit Wohlgefallen zu lächeln, werde ich zum Kind, beginne zu lamentieren und kann an der fruchtigen Schönheit, die mir doch gerade jetzt sonnige Energie spendet, keine Freude empfinden?
Es ist der Tod. Eines Tages werde ich nicht nur diese Frucht aufgeben müssen, nicht nur die Farben werden für immer verblassen, nicht nur die Kleidungsstücke vergehen, nicht nur die Menschen werden sterben, die mir nah sind. Eines Tages musst du alles verlassen. Und es ist nicht mehr solange hin. Diverse Menschen aus dem Bekannten- und Familienkreis, etliche wunderbare Künstler und Musiker und andere mehr, die unser Leben begleiteten, sind in den letzten Jahren gestorben. Sie sind einfach nicht mehr da.
Der Tod rückt näher und näher und es ist Zeit ihn zu erkennen. Unterschiedliche feine und kluge Texte las ich für mich und mit meinem Liebsten: Jidduh Krishnamurti Über Leben und Sterben,Osho Tod- der Höhepunkt des Lebens. Alles, was Ramana Maharshi zum Tod sagt, ist weise und richtig. Immer wieder vergleicht er den Tod mit dem Schlaf und sagt, er wäre nichts weiter als eine erweiterte Form des Schlafs und mahnt uns daran zu denken, dass wir uns zwar auf den Schlaf freuen, aber vor dem Tod Angst hätten. Wie lächerlich. 
Wir kennen den Tod nicht. Es sind lediglich Vorstellungen und Gedanken, Erfindungen, denen wir uns ausliefern. Unsere Tränen gelten nur uns selbst, da wir noch nicht erwachsen, nicht reif geworden sind und unseren Geist nicht unter Kontrolle haben. Wir weinen wie allein gelassene Kinder. Die Toten zu bedauern ist blanker Unfug. Gerade sie sind doch erlöst vom Leiden, von dem Wahn, von der Qual. Wir sollten sie eher beneiden und sie in Ruhe lassen, dass sie ihren Frieden finden mögen.
Warum die Toten betrauern? Sie sind aus ihren Banden befreit. Trauer ist die Kette, die der Geist schmiedet, um sich mit ihr an die Toten zu fesseln. Ramana Maharshi, Gespräche des Weisen vom Berge Aranachula, S.175. Aber leider vergesse ich all dies immer und immer wieder, da die Prägungen durch den Ahnensog so mächtig sind oder/und, wie Ramana sagt, der Geist nicht stark genug ist.
Orange, Farbe des Lebens, Gelb, Licht der Sonne und Rot, unser Blut und das Feuer. Heute hat mich die Frucht heimgeholt und mir Tränen entlockt. Weiter und weiter will ich forschen, bis mir der Tod keine Angst mehr machen wird und ich diese wunderbare Einsicht, von der ich sehr genau ahne, dass sie wahr ist, weitergeben kann.

 Orange mit Glas [für Roy Lichtenstein], 1999  
60x 75cm
Öl auf Leinwand