27. Januar 2015 – 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
Kein perfekter Platz heute für einen Eintrag in mein Kunst-Tagebuch, dessen zusammenhängender Sinn sich meist erst ergibt, wenn ich mich durch die Hingabe ans Schreiben vollkommen entspannen darf? Das Café in Hamburg- Eppendorf am Grindel ist überfüllt. Heute ist der 27.1. 2015, 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Bin ich daher so nervös? Wollte ich vielleicht darüber schreiben? Ein derartiger Tag des Gedenkens und niemandem ist etwas anzumerken? Mir erscheint der lockere Frohsinn der Studentinnen und jungen Männer seltsam schal und naiv. Tue ich ihnen Unrecht? Wir befinden uns im ehemals jüdischen Viertel am Grindel beim Kino Abaton. Vor wenigen Jahrzehnten wurden hier Menschen aus ihren schönen Stadtwohnungen gezerrt, abgeführt, abtransportiert, um planmäßig ermordet zu werden.
Gedanken an meine künstlerische Produktion treten in den Hintergrund. Mein inneres System fokussiert sich jetzt auf das Thema des heutigen Tages, an dem ich nicht vorbeikomme. Darf ich es Thema nennen? Ist es nicht etwas ganz anderes als ein Problem, mit dem wir uns thematisch beschäftigen sollten? Wie wäre es, wenn dieses feine Stadtviertel heute einfach still gelegt würde? Stell dir vor, jeder der hier lebt und arbeitet und zusätzlich jedermann, der heute hierher gelangt, aus welchem Grunde auch immer, würde durch eine Verordnung unmissverständlich aufgefordert, zu schweigen, einen Tag lang, nur für einen Tag in Stille zu gedenken. Dazu könnte im Abaton der Film Shoah von Claude Lanzmann laufen, acht Stunden im Stück, in einer Endlos- Schleife. Als ich eben begann zu schreiben, konnte ich nur einen beengten Platz einnehmen und nicht umhin, meine Mitmenschen aufs Korn zu nehmen. Jetzt, nachdem ich meinen mahnenden Empfindungen und Gedanken Luft gemacht habe, ist es hier plötzlich ruhig und nahezu menschenleer. Ist es möglich, dass meine Gedanken an die mörderischen Aktionen zur planmäßigen Vernichtung des Jüdischen Volkes, eben auch hier im Grindel-Viertel Hamburgs, die Menschen beim Warten auf einen Milchschaumcafé derart berührt haben, dass sie vor ihrer Verantwortung geflohen sind? Nicht einmal einem einzigen Tag, einem solchen Gedenktag, dem Holocaust- Gedenktag am 27. Januar, wird flächendeckend Aufmerksamkeit gewidmet in Hamburg, der schönsten Stadt der Welt (90,3), einem Mustergau auch der Judenentrechtung und -vernichtung. Wie elegant muss es hier gewesen sein, als jüdische Hanseaten das Stadtbild dieses noblen Stadtviertels prägten. Die Studentin neben mir mit Pferdeschwanz und Haargummi, Dauerfrisur junger Hanseatinnen, nimmt ihren Rucksack und geht. Hat sie meine Worte gehört? Die Kleidungsstücke nahezu aller hier Sitzenden sind von Frauen genäht, die als Sklavinnen gehalten werden. Daunen und Billigfedern der Polsterjacken werden den eingepferchten Gänsen vom lebendigen Leib gerissen. Die Felle von den in Massentierhaltung ermordeten Tieren schreien vor Schmerz und erlauben ihren Trägerinnen gerade einmal die Ausstrahlung dumpfer Zufriedenheit.
Zwei Stunden später. Meine Parkuhr war abgelaufen und ich klappte meinen PC zu. Es ist bedrückend an diesem Tag in dieser Gegend im Café am Allendeplatz zu sitzen und absolut nichts von dem Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz wahrzunehmen, zu sehen, zu erleben, außer selbst darüber zu schreiben. Vor dem Café wird mir plötzlich klar, warum ich heute am 27. Januar 2015 gerade an diesem Ort schreibe, was ich nicht geplant hatte. Eine Schülergruppe steht vor dem Abaton und wartet gelangweilt auf einen Film, der sich mit Auschwitz befasst. Mir stößt die zunehmende Verwahrlosung dieser ehemals prachtvollen Bürgermeile auf. Zugelassene Bettler unterbrechen wie die mahnenden Stolpersteine das Bild des ungepflegten Bürgersteigs auf ähnlich verlogene Weise. Wir tun doch sonst nichts für die Armen. Nach einem Arztbesuch in dem nahe gelegenen Pöseldorf und einem Mittagstischgericht im Abatin will ich hier erneut ins Café Balzac gehen, um weiterzu schreiben. Es gelingt mir nicht. Heute verbreitet diese Gegend keinerlei intellektuelles oder studentisches Flair. Vielleicht lässt sich eben auf eine noch vor wenigen Jahrzehnten dem Judenmord anheim gegebene Gegend nicht einfach ein lockeres studentisches Leben pflanzen und arglos genießen. Den trüben Ausdruck der Studenten verstärken diverse Alte, zu denen ich auch gehöre. Obwohl ja nichts gegen ein langes Leben gesagt werden kann, erscheinen sie mir wie suchende Schmarotzer, die ihr Leben lang verdrängt haben, was angeschaut hätte werden müssen, und die nun den Jungen aus innerer Not deren Dasein erschweren und rufen: Ihr für uns! Süchtig, geistig unterversorgt, ängstlich, krank, einsam; so ungefähr die Ausstrahlung der alternden Rentnerschar in der City.
Ich flüchte ins Café Balzac in den Colonnaden. Hier weiß erst recht kein Mensch etwas von einem Gedenktag. Der Tag unterscheidet sich in keinerlei Weise von jedem beliebigen anderen. Eine kleine Frau setzt sich mir gegenüber, etwa mein Alter, kurzes getöntes Haar, Gleitsichtbrille, strenge Hosen, klopft das rote Polster ihres Sitzes sauber, reinigt dauernd den Tisch mit der soft weißen Papierserviette, intensiv wischend, als wolle sie Tränen und Blut wegreiben, das so viele Juden dieser Hansestadt hier vergossen. Sie blättert mit spitzen Fingern in der ausliegenden Presse, im Handelsblatt. Wir brauchen die Juden wird der Tonus sein, darin sind sich alle einig. Auf wen könnten wir sonst unseren Hass ausbreiten. In mir kriecht eine messerscharfe Abneigung gegen diese Frau hoch, die mich zugleich mahnt: Du bist diese Frau. Vergiss es nicht! Auch für sie bist du verantwortlich. Ein Schleim hustender alter Mann betritt das Café. Was weiß er vom Holocaust? Ich stelle mir diese Einrichtung in vierzig Jahren vor und bekomme das Fürchten.
Wir müssen allem sterben, was der Geist in uns angesammelt hat, jeder Prägung, jeder Tradition, jeder religiösen Emotion und jeder Überzeugung. Wir sind verantwortlich, jeder ist für jedes Geschehen verantwortlich. Wenigstens heute an diesem Ort, in Hamburg, im Gedenken an Auschwitz. Wie soll unser Geist frisch werden, wenn wir die Last der Vergangenheit nicht einmal anschauen? Wie wollen wir als Deutsche ohne die Anstrengung des Verstehens dieser bleischweren Last in uns die Möglichkeit zum Atmen frei räumen? Wir können, wenn wir wollen. Einfach, indem wir still werden? Was gibt es zu tun? Nichts, antwortet der Weise. Setz dich in den Zug des Lebens und lasse dich auf dem Kahn deiner Bestimmung den Fluss hinunter treiben. Wirf die Ruder weg. Stell dein Gepäck ab. Wie auch immer du dich anstrengst, es wird dir geschehen, wie es für dich bestimmt und beabsichtigt ist. Vergiss jegliche Anstrengung. Sie ist umsonst. Verschwendete Energie. Lass alles zu. Gib endlich auf. Lasse diesen Gedenktag inmitten des stummen Vergessens deiner Mitmenschen in dir blühen und sterben.
Wie kann ich nur einen Tagebucheintrag zur Kunst vornehmen an einem solchen Tag? Mir wird vor mir selbst bang und das ursprüngliche Anliegen meines Schreibens zerrinnt im Angesicht der Ignoranz unserer Hamburger Bevölkerung an diesem 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, die ich, eine Hanseatin, doch auch bin.
Nachtrag, 28. Januar 2020.
Gestern war der 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Was ist in diesen fünf Jahren passiert? Wenn ich das Wort Befreiung schreibe, fühlt es sich an wie eine Lüge. Was ist befreit? Wer ist befreit? Wer hat befreit? Der Antisemitismus lebt und dehnt sich dramatisch aus. Es genügt offensichtlich nicht zu gedenken, Gedenkstätten zu bauen und zu besuchen. Und Vorsätze genügen eben auch nicht: „Es darf nie wieder geschehen!„ und weiter schlafen. Wie jedermann weiß, wird bei einem Vorsatz immer gleichzeitig der Feind mit auf den Plan gerufen, der dann erst recht zuschlagen will.
Wir sind aufgerufen zu erforschen, warum uns dieses Schreckliche ereilte und wieder ereilen will. Aus der Hybris unseres Ego ist ein Monster geworden, das sich anschickt, sich in einer grauenvollen Fratze erneut zu entfalten und darauf lauert zum Zuge zu kommen. Das Ich allein ist schwach, verführbar, neidisch, blind, hochmütig, voller Hass und zum Schlimmsten bereit. Aber wir sind nicht das Ego.
Unser Ich ist göttlich. Nicht dort oben Gott der Vater und hier unten das kleine Ich, aggressiv und schuldbewusst auf Bestrafung wartend. Wir sind ebenso göttlich wie Gott selbst. Wie sollten wir ihn sonst erkennen. Nur sind wir leider verkleistert durch ein systematisches Konzept aus Sünde und Schuld, das uns in Angst und Aggression zurück lässt. So schreien wir nach Hilfe und finden sie nur in unserem eigenen Ich. Diese Zusammenhänge zu erforschen gilt mein ganzes Bemühen. Ich bin überzeugt, dass wir in dieser Erkenntnis eine Chance haben und darin der Schlüssel begraben liegt, angstfrei und milde zu werden. Hier ist die Möglichkeit verborgen, sich selbst und jedem anderen zu vergeben. Allerdings ist dies kein moralisches Vergeben. In dieser Art zu vergeben zeigt sich eine helle Macht, die Krusten löst und brutale Strukturen lockert. Sie stellt sich ein in der Einsicht, dass alle Menschen göttlich sind, nicht im Sinne von herrlich sondern von rein. Diese Einsicht ist auf dem Wege der alten kirchendogmatischen Vorstellung von Gut und Böse nicht zu erlangen. Aber es gibt ein Phänomen, das uns helfen kann, das gelebt hat und dem wir nacheifern können. Es ist die Lichtgestalt und der Freiheitskämpfer Jesus. Nicht wie die Kirche es uns lehren will und uns damit beherrschend abhängig macht, sondern wie Jesus selbst es gelehrt hat.
Jeder ist aufgerufen, sich mit dieser Sichtweise zu befassen. Es geht um nichts kleineres als um die Liebe, die doch ein jeder so sehr verehrt, nach der sich doch ein jeder so sehr sehnt. Natürlich ist nicht die kleine brüchige emotionale Liebe gemeint, der wir alle auf den Leim gehen, sondern die Hingabe an das Sein.
Ich traue mich, diese scheinbar großen Worte hier öffentlich aufzuschreiben und mich damit möglicherweise in den Augen vieler Menschen sonderbar zu machen. Aber es ist sicher, dass ohne das hier angesprochene Bestreben nichts auszurichten sein wird hinsichtlich des wieder so sichtbar herannahenden Schrecklichen, das einst zu Auschwitz geführt hat.