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Tagebuchblatt

13. Mai 2024  •  Tagebuchblatt  

Aspesi

Die beiden Schwestern gibt es nicht mehr. Frau Ocker, die jüngere, starb, die ältere übernahm für eine Zeit und nun ist es fort, das bescheidene und zugleich stolze Geschäft in Blankenese, das uns Frauen so viel Freude bereitet hatte. Wie sehr ich diesen kleinen Zauberladen im Zeichen der aktuellen großen Mode der Welt bis heute vermisse. Mode ist eben viel mehr als zweckmäßige Kleidung für den Körper.

Einst in HH 55 oberhalb der Elbe kaufte ich mir in der Bahnhofstraße in einem kleinen Modegeschäft hin und wieder ein schönes Stück. Frau Ocker war begeisterte Modeliebhaberin und ließ uns auf charmant gediegene Weise daran teilnehmen. Gemeinsam mit ihrer Schwester besuchte sie einmal im Jahr Messen in Paris, Mailand u.a. und besorgte einen Mode-Account, um ihn uns dann feilzubieten. Wie sehr gern, wegen meines begrenzten Studienrat-Gehaltes vor allem zu Ausverkaufszeiten, stöberte ich in dem edlen Angebot. Mindestens einmal jährlich erstand ich dann einen Artikel: ein Kostüm, eine Hose, einen Pulli oder auch Ausgefallenes, das ich zum Teil bis heute verwahre und trage. So zum Beispiel einen Schlangenleder-Gürtel, eine elegante warme Kostümjacke von Armani, ein verspieltes Shirt zum überziehen, das wir sehr schätzen. Die abgelegten Kleider verehre ich bis heute auf alten Fotografien. Das mildrote Kostüm z.B., das in Farbe, Stoff und Schnitt einen so erotischen Klang verbarg, dass wir beide uns auf der Stelle ineinander verliebten, wenn ich es trug.

Meine Philosophie aber will doch ganz etwas anderes vermitteln! Ich suche in meinen Tagebuchblättern. Drei längere Texte mit den Titeln Schönheit 1, Schönheit 2, Schönheit 3 aus dem Jahr 2015 berichten von dem Brennen, meinem Verlangen nach Schönheit. Eine Ausstellung mit dem Titel Die Schönheit der Nutzlosigkeit aus dem Jahr 2008 zeigt in einigen lyrischen Tuschpinsel-arbeiten die Hinfälligkeit allen stofflichen Seins auf. 2005 spreche ich in etlichen Bildern von der Süße des Verlustes. Ermahnend male und zeichne ich zu Sei still!, der Aufforderung des großen Weisen Papaji. Ramana Maharshi sagt: Was Sie als ‘voller schöner interessanter Dinge‘ ansehen, ist tatsächlich der dumpfe und nichtwissende Schlafzustand. In der Bhagavad Gita heißt es: ‚Der Weise ist hellwach, wo für andere Dunkel herrscht‘. Sie müssen aus dem Schlaf aufwachen, der Sie jetzt noch umfangen hält! In dem Lehrbuch Ein Kurs in Wundern vermittelt Jesus uns eben dasselbe, was uns die großen Weisen zuraunen. Ich will dem Wertlosen keinen Wert beimessen.[Ü 133], Ich mache die Welt von allem los, wofür ich sie hielt [Ü 132].

Das Prüfen der vergänglichen, flüchtigen Natur der äußeren Gegebenheiten führt zum Nicht-Anhaften an irgendetwas und wir müssen, ob wir wollen oder nicht, genau dies leisten. Immerwieder holt es mich ein, dieses Verlangen nach Schönheit. Jetzt im Frühling ist es besonders schwer zu ertragen. Die Schönheit umgibt mich in unendlichen Facetten. Sieh doch die Feinheit und die Pracht des aufbrechenden Wachsens und Rauschens. Blüten, Knospen, junge transparente Blätter, bunte Zweige, diverse Gräser. Die Farben in ihrer Differenziertheit, Leuchtkraft, ihrem Schimmern und Strahlen. Die Entgrenzung ist schwer zu ertragen, will mich heimholen. Demütig schneide ich Zweige und Blüten, stelle sie in passende Vasen und verneige mich vor ihrer bescheidenen Stille. Um mich zu halten, beginne ich zu schreiben, zu dichten, zu zeichnen, zu malen, zu tanzen. Ramana Maharshi beruhigt mich, wenn er mir zugesteht, dass es als Vorstufe zur Entsagung erlaubt wäre, bhakti zu pflegen, die Hingabe an ein Ideal, sei es nun Gott oder auch z.B. die Idee der Schönheit, bevor man dann auch diese fallen lassen muss, um das absolute Sein zu erreichen (S. 36 Gespräche des Weisen vom Berge Arunachala). Rumi tröstet mich, wenn er sagt „Wer tanzt, wohnt in Gott“ .

Nach dieser langen Einleitung komme ich zum Anlaß des heutigen Tagebuchblattes. Als ich mich heute zum Schreiben entschloss, plagte mich mein spontanes Vorgehen von vor einigen Tagen, das auf seine Einlösung durch die Post sowie durch meine Betrachtung und Prüfung des Paket-Inhaltes wartet. Es geht um die Bestellung zweier Hosen aus Italien per Internet. Sehr spontan hatte ich gehandelt, auch gleich bezahlt. Und nun warte ich seit drei Tagen nach  Ankündigung per Mail vom Versand der Bestellung. Oh je! Warum dauert es solange? Ängstliche Unruhe begleitet meine Nächte. Obwohl es sich doch nur um einen Modeartikel handelt und ich ihn ja persönlich bezahlen werde, es auch leicht kann, plagen mich Zweifel, Vorwürfe, ängstliche Skepsis. In meiner Ungeduld, ich hatte meinem Liebsten noch nichts erzählt, was für mich kaum auszuhalten ist, rief ich in Mailand beim Hersteller an. Eine Italienerin, die deutsch sprach, hat mir nun zunächst auf charmante Art fast liebevoll zugesagt, dass das Paket wohl morgen hier ankäme.

Die Marke dieser Hosen hatte ich einst bei Frau Ocker in Blankenese kennengelernt und ich trage die damals erstandene Hose bis heute. Aspesi
Frau Ocker fragte mich, als ich beschloss, die Hose zu kaufen: „Woll‘n Sie sich zu dieser Hose wirklich entscheiden?“ und lächelte mir wohlmeinend zu. Wenig später ging ich froh und ein wenig stolz über meinen Mut mit dem schön verpackten noblen Kleidungsstück aus Italien nach Hause.

Wie anders als bisher ist das Einkaufen von Kleidung geworden. Vieles ist nur noch per Internet zu erstehen. Das bedeutet für mich Stress. Da ich diese Hose aus mehreren Gründen unbedingt haben wollte, fühlte ich mich zu der möglicherweise riskanten Bestellung aufgefordert. Für uns im zweiten Weltkrieg Geborene und jetzt im hohen Alter ist eine solche mediale Aktion von Stress betonter Belastung. Wie schlicht war der Einkauf doch damals bei Frau Ocker.
Ich beobachte, wie ich unter Druck gerate. Kann ich keine gut angezogene, auch z.T coole ältere Frau mehr sein? Das äußere Erscheinungsbild ist für mich von, ich weiß: übertrieben, großer Bedeutung. Kleider machen Leute. Kann ich mich nicht mehr schön machen, bricht für mich eine Welt zusammen.
Die Wege in die Kaufhäuser weiter entfernt per Auto werden für mich kompliziert. Die Materialien sind zunehmend anstrengender für mein feines Nervengewebe. Es juckt, piekst und kratzt, läuft ein, unangenehme Farben, die Mode ist seltsam geworden, u.a.m.… Es gibt sie noch, die Läden… aber wo… du musst suchen, dich erkundigen, dich anders kleiden, o.ä. Selbst diese Gedanken an das Sich- Bemühen-Müssen machen mir Stress.

Kürzlich hat in Harburg das Kaufhaus Karstadt seine Filiale schließen müssen. Die Betrübnis der Anwohner rund um das Kaufhaus ist riesig. Hier konnten wir nahezu alles finden, was der Alltag fordert. Nicht wenige Menschen haben auch Kleidung bei Karstadt gekauft. Ich habe hier Strümpfe, Kosmetik, begrenzt Unterwäsche, Tücher, besonders Haushaltsware und DiesundDas erstanden. Die Verkäufer bildeten ein stabiles Team, deren Mitglieder sich untereinander gut verstanden und von uns allen geschätzt wurden. Unsere Nachbarin Gerda Ewald war lebenslang Verkäuferin bei Karstadt in Harburg und sie konnte uns erfahrungsgemäß wunderbar pragmatisch beraten, wenn wir bei ihr zum Kaffeetrinken mit selbst gebackenen Kuchen am mit gebügeltem Tischtuch gedeckten Tisch saßen und über dies und das plauderten.

Ja, natürlich kannst du in die Innenstadt fahren. Dort gibt es zunächst weiterhin ein großes Karstadt. Aber es ist etwas anderes, als wenn ich mit dem Fahrrad zu Karstadt-Harburg fuhr, z. B. noch schnell einen Wäschekorb erstehe oder eine Batterie für meine Uhr. Die kleineren gediegenen Geschäfte mit Haushaltswaren wie Sobotka in Harburg oder Bernklau in Blankenese, haben allesamt inzwischen geschlossen. Der zuverlässige Einzelhandel verschwindet und ich kann mich nur schweren Herzens damit abfinden. Schon beim Schreiben dieser Gedanken wird mein Schreibfluss gelähmt durch unumgängliche Einsichten: Du brauchst keine Batterien für die Uhr zu kaufen. Es gibt dafür das Smartphone. Alles andere kannst du bei OBI oder Budni kaufen oder per Internet bestellen. Es lähmt mich, all dieses zu benennen, was sich in den letzten Jahren verändert hat. Es ist für mich nicht mehr möglich, abends in die Fernsehprogramme zu schauen und ein bißchen Ablenkung zu erhaschen. Es gibt nur noch Schrott oder politische Sendungen mit einer einzigen gleichgeschalteten Meinung. Kulturelles von Niveau höchstens zu nächtlichen Zeiten. Die ehemals guten Unterhalter haben ihre Seelen dem politischen Mainstream verschrieben. Quiz, was anderes fällt ihnen nicht mehr ein. Mich gruselt’s. Natürlich, du musst es ja nicht. Aber die Freiheit der kleinen Normalität ist nicht mehr vorhanden. Kritik wird verleumdet, verfolgt, gelöscht. Menschen im Nischen-Dasein werden belächelt, abgelehnt, verleugnet, ausgegrenzt. In seiner Buntheit des ehemaligen Kultur-Angebots gab’s auch für Leute wie mich was. Aus, vorbei.

Alles, Wesentliches, Unwichtiges, Erwünschtes u.ä. will bewusst geplant, erkundet, gesucht, erfragt werden. Unser Leben wird zunehmend anstrengend und vor allem gelenkt, es ist so deutlich zu spüren. Lockerheit ist für mich nicht mehr möglich.
Eine unbewusste dichte Blase der geimpften Gesellschaft  legt sich wie ein graues Tuch über das helle Grün des Frühlings. Gigantisch große Container und Kreuzfahrtschiffe schleppen sich über die Schönheit der Meere. Heran nahende dunkle Wolken schließen sich um die Seelen der Normalbürger und sie applaudieren schweigend zum eigenen Untergang.

Ich mag nicht mehr weiter schreiben. Hervorragende Leute sind ausgewandert. Es muss eine vollkommen neue Perspektive her und dann konsequent gelebt werden. Sonst kannst du einpacken. Ich weiß es ja und nicht umsonst befasse ich mich mein Leben lang mit dem spirituellen Weg, jetzt seit einigen Jahren mit Ein Kurs in Wundern. Noch niemals habe ich eine derartige Notwendigkeit für die Hinwendung an das innere Leben gespürt. Jetzt wird es ernst. Es ist höchste Zeit.
Erst einmal soweit und abwarten, was DHL mit der Post mir bringt.

Das Beitragsbild ist ein Blatt aus meinem Künstlerbuch:
Die Büchse der Pandora, 2012, 19 Arbeiten á 21x 29,7cm 
Blattgold, Collage, Tempera, Aquarell auf schwarzem Karton
[Das bearbeitete Fotoelement zeigt die Fotografie lips von Man Ray]

Collage + Aquarell auf schwarzem Karton aus Die Büchse der Pandora