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Den Rubikon überschreiten

Tagebuchblatt  23. März 2019

Wenn du dich im winzigen Zeitfenster deiner Möglichkeiten nicht um Erkenntnis bemühst, nicht um Wahrhaftigkeit ringst, wird dir allerspätestens am Ende deines Lebens der Ahnensog einfach ein Schnippchen schlagen. Das Korsett der Lebenslüge, ob wissentlich oder nicht einmal von dir gespürt, wird im Alter durch die schwindende Lebenskraft Risse bekommen und plötzlich bersten oder sich in langsamer Form auflösen. Unfall, Krankheit, Verwirrtheit, Bosheit, Hässlichkeit, Vereinsamung und Verzweiflung gehören in dieses Kapitel.
Viele Menschen merken nichts von dem überlagerten oder verdrängten Freiheitsdrang ihrer Seele und verderben, erniedrigen oder verkaufen sie unwissentlich. Wenn sie nun ihr Leben lang vermieden haben, diesen Trieb ihrer Seele zu erspüren und zu erkennen, hat der gnadenlose Sog leichtes Spiel und treibt sie in den Schmutz von Verstörtheit, ins Delirium geistiger Umnachtung. Du kannst es schon früh erkennen, –z.B. wenn Menschen nicht bereit sind, bewusst auf den Tod zu schauen, auf Ängste und seltsame eigene Verhaltensweisen,– werden sie über kurz oder lang unhöflich, abweisend, unwirsch, bösartig oder verwirrt.
Ist ein Leben von Menschen, das derart endet, nicht vertan? Vielleicht sollte ich mich mit solchen Einsichten nicht quälen, sondern eher dankbar sein für die Gnade, die mir widerfährt, wenn ich mich um Erkenntnis bemühe. Wenn auch die Schmerzen des seelischen Wachstumsprozesses häufig unermesslich groß erscheinen, so ist doch kein Kampf dieser Art umsonst, da er Licht in das Dunkel nicht nur des eigenen Dickicht bringt sondern damit auch in das Leben überhaupt.
Und so gehört es auch dazu, Menschen, obwohl du sie lange kennst und häufig genug mit ihnen umgehst, die dich im Grunde ihres verstrickten Herzens auf ihre Art eher ablehnen, anzunehmen und ihnen freundlich zu begegnen. Ihre Schroffheit dir oder besser gesagt der Wahrheit gegenüber hat ja nichts mit dir zu tun, sondern ist das Ergebnis von Verblendung, der Überlagerung der Seele mit Müll. Und so gehört es am Ende erst recht dazu, Menschen, obwohl sie dir nahe standen, –standen sie es wirklich?– ohne zu jammern gehen zu lassen und keine sentimentalen Lügen aufzutürmen, die dich ins Reine waschen wollen oder dich falsches Mitleid vortäuschen lassen. Du wirst dich vielleicht viel eher fragen müssen, ob du nicht schon zu deren Lebzeiten das Lügenspiel ganz gern mitgespielt hast, vielleicht aus egozentrischen Motiven heraus, z. B. weil du mit ihrem Leid deine bedürftige Kinderseele gefüttert hast.
Begegne dem Ahnensog rechtzeitig, nicht nur bei dir sondern bei jedem, wann immer du ihn erkennst und bleibe dabei aufrichtig, zurückhaltend, freundlich. Du brauchst dabei deinen Trieb zur Freiheit und zur Wahrhaftigkeit nicht aufzugeben.
Grausam ist die Realität des Ahnensogs. Erkenne ihn früh und handle auf der Stelle.
Überschreite dabei den Rubikon.
(Zitat Dr. Georg Kerner,1770- 1812, Jakobiner und Armenarzt, S.1 )