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Fotografiererei

19. Juli 2019

Das Schicksal der Fotografie treibt mich, es erneut zu reflektieren, behutsam zu erspüren, aber eben zudem sehr grundsätzlich mit ihm ins Gericht zu gehen; mit dem Geheimnis des Ablichtens, seinem Mysterium, der Magie und seiner Verführbarkeit, aber zugleich auch mit der fotografischen Realität in puncto Auffassung, Anwendung, Verbreitung und Verwertung. Im Besonderen will ich dabei meinem Unmut Luft machen und der Fotografiererei mit dem Smartphone zu Leibe rücken.
Als Kind trug ich eine eigene Kamera am Körper über die mir schwebend erscheinende metallene Flugzeug-Treppe und fotografierte auf meiner ersten Flugreise durch das kleine ovale Fenster die schneebedeckten Alpen vor einem endlosen lichtblauen Himmelsgewölbe. Für die Zeit der Reise blieben die Aufnahmen im Kasten, für ein Kind eine enorm lange Wartezeit bis zum Anschauen dieser selbst erstellten Bilder. Später dann das Fortbringen einer kleinen Papier-Rolle durch den Vater zum Fotofachgeschäft und erst recht der geheimnisvolle Augenblick des Einsehens in die Tüte mit den schwarzweißen glänzenden kleinen Bildern mit weißem Rand…. Und dann das erste eigene Fotoalbum. Auch für Jahrzehnte später erinnere ich die Dauer vom geschossenen Foto bis zur Ansicht nach deren Entwicklung als eine ganz besondere Zeitspanne, die durch die Anforderungen gänzlich anderer Art als z.B. die einer Reise dazu beitrug, das Schicksal der Fotos nahezu zu vergessen…
Was ist nur aus der Fotografie geworden, dieser noch gar nicht sehr lange zurückliegenden einzigartigen Erfindung. Das gerade einmal 200 Jahre alte bildgebende Verfahren hat die Menschheit fest im Griff. Ohne Bewusstsein für die Besonderheit dieser bahnbrechenden Errungenschaft des 19. Jahrhunderts treibt es uns zu einem suchtbedingten Missbrauch der Fotografie. Es macht mich zornig, da ich die Fotografie einst mehr als verehrte. Natürlich weiß ich, dass Zorn eine teuflische Empfindung ist, die ich weder aussprechen noch in Gedanken formulieren sollte. Auch Wut zerstört und bindet. Zumindest will ich aber ein Licht auf all diese Beobachtungen und diffusen Emotionen werfen.
Meiner Ansicht nach fotografieren die Menschen sich mit ihrem Handy in der Tasche zu Tode. Mit einer Kamera extrem guter Qualität plus Video-Option, zeitgleicher Erstellungs- Betrachtungs- und Sendemöglichkeit. Keine Menschenseele vermag mehr zu zählen, wie viele fotografische Bilder pro Tag gemacht und betrachtet und versendet werden. Von hinten, von der Seite, in der Gruppe, allein, von oben und unten, Totale, Halbtotale, Porträt, Großaufnahme, Detailaufnahme. Dauernd. Und all dies häufig ohne dass du es merkst. Später, oder auch sofort, stellst du fest, dass du wieder einmal fotografiert wurdest, um auf diesen unliebsamen Ablichtungen nun ungefragt der Freude, der Vergleichbarkeit, dem Stolz, der Bewahrung und anderem zu dienen. Vereinnahmung durch die Sofort-Kamera besonders der Kinder aber auch der mündigen Erwachsenen besonders im Freundes- und Familienkreis. Du kannst dich kaum wehren. Von den Feldern der Öffentlichkeit will ich zunächst nicht sprechen. Es gibt nahezu keine Begegnung, keinen Besuch und kein Fest mehr ohne diese leidige Begleiterscheinung. Und wieder wie anno dazumal muss ein Bild von dir im Weihnachtszimmer der Erinnerung herhalten. Wie sehr schrecklich! Der Mensch will einfach nicht wachsen, nicht frei werden. Eingefangen, Klappe zu, bereit zur Veröffentlichung. Dir werden die Fotos geschickt, ob du willst oder nicht und du hast die liebe Mühe mit Dank, eventueller Freude, Aussonderung, Bewahrung, Ignoranz oder Vernichtung. Die Sammlungen der Jungfamilien müssen ein Horror sein. Auch in Institutionen wird fleißig fotografiert. In öffentlichen Räumen wie Badeanstalten, Sportplätzen, Schulen, Cafés, Restaurants, Kunstausstellungen, Konzerten, in der Bahn und auf den Straßen ist das Handy mit seinem Kameraauge ein ständiger, rücksichtsloser, Begleiter geworden.
In diesem Zusammenhang erinnere ich, wie wir an der Hochschule vom Dozenten für Fotografie angehalten wurden oder wie ich die Schüler eines Fotokurses am Gymnasium ermahnte: „Personen ohne deren Einwilligung zu fotografieren ist per Gesetz verboten.“ Es wurde schlicht verordnet, Menschen, z.B. in der Stadt, die abgelichtet werden sollten, um deren Einwilligung zu bitten. Dies war allen klar und es wurde achtsam mit der Einhaltung oder erst recht mit der Übertretung dieses Gesetzes umgegangen.
Wie ist es möglich, dass sich im 21. Jahrhundert diese unreflektierte Gewohnheit in rasender Quantifizierung ohne Hinterfragung ausbreitet wie ein tosender Feuersturm? Ich gebe zu, ich war besonders anfangs und bin bis heute von der umwerfenden Qualität der Handy-Fotokamera sehr beeindruckt. Zusätzlich mit seinen diversen Optionen wie Straßenzustand, Wetter, Apps etc. kannst du dich kaum noch gegen diesen kleinen Teufel aussprechen. Vorsätze werden fallen gelassen, und die Kamera im Handy wird zu allen möglichen Erfordernissen schnell und bequem eingesetzt. Qualitätsanspruch, Vergangenheitsidylle und Bild- Bewahrungssucht haben Hochkonjunktur. Die Jungs in den dampfenden Feldern des Elektroschrotts in Afrika sind schnell vergessen, wenn es um deinen glitzernden Liebling geht, dem Handschmeichler in deiner Tasche.
Ich möchte im Folgenden versuchen diesem, wie ich finde, gefährlichen Phänomen eines ständigen fotografischen Begleiters auf die Schliche zu kommen. Schon mehrere Male in meinem Leben verabschiedete ich mich von bewahrten Fotografien. Bei der Trennung  von meinem Mann übergab ich ihm sämtliche Dias und Fotos unserer zehnjährigen Partnerschaft. Meine gesamten Kinder- und Familienbilder überließ ich dem Papiercontainer. Alle Dias von Reisen warf ich weg. Alle Fotografien von Unterricht und Schule habe ich entsorgt. Allerdings sortierte ich dabei immer wenige Restbilder aus, die ich verwahrte. Bis ich eines Tages auch diese wieder reduzierte und aus ihnen fünf Alben erstellte, die ich Abschied nannte. Da mir auch in ihnen der Wirklichkeitscharakter noch zu extrem erschien, übermalte ich diese Fotografien, immer solange, bis ich die Dominanz der Vergangenheit in ihnen ertragen konnte. Ich wagte nicht, sie gänzlich zu übermalen oder gar sie zu vernichten. Diese Alben verschloss ich dann lichtdicht, um ihren Inhalt zu bewahren. Also doch? Warum entsorgte ich sie nicht vollständig?
Auf eine Reise in die Staaten 1968 nahm ich aus Überzeugung keinen Fotoapparat mit. Und gerade diese Reise ist in meiner Erinnerung hochlebendig. Manchmal finde ich es schade, dass nicht wenigstens ein kleines Foto von dieser großen Fahrt in meinem Kasten ist. Auch habe ich ein winziges Foto von meinem ersten Schultag in unvergessener Erinnerung. Auf ihm stehe ich vorn in einer Reihe mit Kindern aus wohlhabenden Hamburger Reeder- und Kaufmanns-Familien, hinten klein im Bild sieht man, wie eine Mutter allein ihre Tochter ablichtet. Sie wurde später meine beste Freundin, Silke. Leider habe ich diese kleine Fotografie nicht mehr. Aber was ist mit meinem Bild im Kopf? Keineswegs bin ich frei von dem Mysterium der Bilder.
Bis heute gibt es die herrlichsten und feinsten Fotografien sowie die allerbesten Fotografen. Sicherlich sind es die, welche dem Wesen der Dinge und der Welt nachspüren und dabei dem Gestaltungswillen in ihrem Inneren lauschen wie es jeder gute Künstler eben tut und wie dies sich in jedem guten Werk äußert, ob es nun eine Fotografie ist oder ein gemaltes Bild, ein Objekt, ein Gedicht oder eine musikalische Komposition. In der auf Kunst bezogenen Hinsicht tritt der spezielle Charakter der Fotografie als Ausnahmeerscheinung also weitgehend in den Hintergrund. Die Frage, ob Fotografie Kunst sei oder nicht, hatte einst zu Gerichtsprozessen (Gisèle Freund, Fotografie im Gerichtssaal) geführt, ist im zwanzigsten Jahrhundert immer wieder durchdacht und heiß debattiert worden, und wird jetzt seit längerer Zeit,– ob zurecht oder nicht–, nicht mehr diskutiert. Die frühe Fotografie entstand in den Köpfen und Gemütern von Künstlern. Heute fühlt sich jeder Laie als Handyfotograf talentiert und berufen künstlerische Wertigkeit ermessen zu können. Vielleicht ist es auch das, was so unangenehm ist. Diese Hybris trägt schließlich auf lange Sicht mit zum Untergang der Kunst bei. Und dieser Gedanke ist für mich schmerzhaft. Tina Modotti kam nach ihrem jahrelangen Exil aus Russland nach Berlin und sah auf den Straßen, wie plötzlich etliche Passanten eine kleine Leica in den Händen hielten und Fotos schossen. Sie wurde traurig und ahnte mit ihrer großen Plattenkamera den Untergang der Fotografie. Tina Modotti’s hinreißende Fotos haben Ewigkeitswert und wurden nach ihrem elenden Lebensende schlagartig berühmt. Die Fotografie Roses erzielte am Tag nach ihrem Tode bei Sotheby’s eine Million Dollar. Tina starb in Armut in einem kleinen Zimmer. In ihrer Heimat Italien wurde sie, eine Frau von Talent, Erotik, Freiheitsgeist und Schönheit, zu Lebzeiten abgelehnt.
All dies interessiert die Handymenschen nicht. Ich habe doch meinen kleinen Schatz, das glänzende Handy, in meiner Tasche. Aber wir werden sehen. Diese kleine Beruhigungsdroge hat ihren Preis.
1966 schrieb Otto Stelzer in der Einleitung seines Buches Kunst und Fotografie: 90% der Bilder– gering gerechnet–, die dem Gegenwartsmenschen vor Augen kommen, sind fotografischen Ursprungs.Wie müsste diese Einschätzung heute 2019 lauten, ein halbes Jahrhundert später, in einer Zeit, die sich durch Neuerungen auf dem Feld des Lichtbildes und erst recht der Digitalisierung ständig und sprunghaft verändert? Zu dieser Feststellung, die sich sicherlich auch schon mit auf das Fernsehen bezog, gesellt sich heute u.a. die immense Bilderflut der Computer und eben die der Handyfotos. Der weltweite unreflektierte Dauereinsatz der kleinen Kamera, diese Fotografiererei, und dann das Zeigen, Vergleichen, Speichern, Versenden etc. millionenfacher Durchschnittsfotografien geht mir nicht nur auf die Nerven. Es ist mehr. Warum? Was will meine Unruhe mir sagen? Was ist es, das mich empört und leiden lässt? Könnte es mir nicht egal sein, in welcher Art sich die Amateurfotografie geriert? Sie hat mich doch früher wenig gestört. Hier die Laien, hier die Künstler. Was geht es mich an?
Wie eh und je belegt sie doch nichts anderes als das soziale Protokoll einer Integration, das den Zweck hat, die Institution der Familie zu stabilisieren.(Roland Barthes, Die helle Kammer, S.15).
Wie würde dieser 1985 formulierte Unmut von R. Barthes wohl heute ausfallen? Ich bin mit diesem soziologischen Kommentar nicht zufrieden. Sofort muss ich, wie Barthes selbst nach diesem Gedanken, an einige Fotografien denken, bei denen ihre Herkunft zweitrangig ist und deren Inhalt ich lieb(t)e. Nun stehe ich dumm da und beschließe weiter zu fahnden. Ich ahne, es ist ein wesentlich größeres Rätsel, als die hochmütige Feststellung, dass jetzt jeder…………..etc., das von mir erforscht werden will. Um diesem umwälzenden Phänomen der optischen Wahrnehmung und seiner Verarbeitung von Wirklichkeit auf die Schliche zu kommen, möchte ich weit ausholen. Ich gestehe mir zu, dabei von ganz persönlichen Empfindungen auszugehen und das Bewusstsein meiner Betroffenheit als Richtschnur zu nehmen (Roland Barthes, Die helle Kammer, S.18).

Wenn ich ein größeres Bild, Malerei auf Leinwand, abgeschlossen habe, fotografiere ich es mit dem Handy und sende es per Mail meinem Liebsten aus Freude und zur ersten Begutachtung. Nicht selten passiert mir dabei folgendes:
Vor dem Absenden entdecke ich plötzlich auf dem Bildschirm des Pc Fehler am gemalten Bild, die ich zuvor am Original während des Malprozesses nicht wahrgenommen hatte; ich gehe zurück ins Atelier und korrigiere sie, lösche das Foto und sende ein neues.
Was ist da passiert?
Das fotografische Abbild siegt über das Bild selbst. Das, was es vergegenwärtigt, triumphiert über die Tatsache, dass das Bild nur ein Bild ist (Klaus Honnef, Süchtig nach Bildern, Kunstzeitung, Juni 2019). Da auch ohne das Handybild die Zweitbetrachtung eines abgeschlossenen Werkes am kommenden Tag mich nahezu bei jedem Bild, –leider muss ich nur selten nichts korrigieren,– zur erneuten Überarbeitung auffordert und darüber nicht immer Verbesserungen eintreten, denke ich schon seit langem über diese Art der Korrekturen nach und komme zu folgendem Schluss:
Bin ich im Prozess des Malens nicht vorwiegend mit dem Herzen und weniger mit den Augen beschäftigt? Natürlich. Ja. Und kann es daher nicht sein, dass bei einer sachlichen Nachbetrachtung das messerscharfe Auge die Oberhand über den Herz-betonten Prozess des Malens gewinnt? Ja. Da ich diese Wahrheit im Innersten spüre, bin ich bei derartigen Korrekturen äußerst achtsam. Mir ist bewusst, dass unser Auge ein Organ des Verstandes ist im Gegensatz zum Ohr, das eher emotionaler und ganzheitlicher wahrnimmt und urteilt.
Walter Benjamins fundamentale Behauptung:
Es ist eine andere Natur, die zur Kamera als zum Auge spricht; anders vor allem so, dass eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. (aus Kleine Geschichte der Fotografie, S. 375, 1931)
Dazu Otto Stelzer:
(x) Die Erfindung der Photographie und ihre ungeheure Ausbreitung ist gebunden an eine bestimmte Bewusstseinsstruktur, der eine bestimmte Verhaltensweise in der Betrachtung der dinglichen Welt entspricht: nämlich die der zentralperspektivischen Anschauung.
Sie ist geknüpft an das darauf folgende Verlangen, die zentralperspektivische Sicht der Tiefe nun auch auf die Bildfläche zu projizieren. Hinter allem steht die Subjekt- Bezogenheit der Welt.
Das zentralperspektivische Sehen unseres Auges ist nicht einfach aus der funktionellen Beschaffenheit unseres Organs Auge herzuleiten, was gemeinhin behauptet wird.
Was wir tatsächlich sehen, ist ja nicht das Netzhautbild, sondern ein Produkt sehr komplizierter Prozesse, die sich mit seiner Hilfe im Sehzentrum auf den Hinterhauptslappen unsres Gehirns vollziehen. (aus:Der perspektivische Raum in Kunst und Fotografie S. 39, piper 1966)
So wie ich es verstehe, wird auf einer frühen Entwicklungsstufe durch die stetig zunehmende Entfernung der Gottes-Ergebenheit die Ganzheitlichkeit des Menschen gebrochen und eine Scheidung in Subjekt und Objekt vollzogen. Sie zeigt sich in einem positivistisch- mechanistischen Weltbild, das sich dann nach dem theozentrisch orientierten Mittelalter weiter entwickeln konnte und mehr und mehr festigte. Das ganzheitliche Wahrnehmen wird durch ein subjektives Sehen abgelöst. Die optische Wahrnehmung bedeutet zunehmend ein Sehen über das Auge, über den Verstand. Die Welt steht als Gegenstand dem Mensch gegenüber. Jetzt erst wird eine zentralperspektivische Welt erfahren. Eine neue Ordnung der Welt, der Räume und Dinge bildet sich auf einer neuen Kulturstufe mit rationaler Bewusstseinsstruktur. Die ganzheitliche Welterfahrung wird abgelöst durch eine perspektivische Sichtweise.
Alte Hochkulturen blieben von dieser Erscheinung häufig unberührt, auch Ostasien ließ sich bis in die Moderne hinein nicht auf die Zentralperspektive ein. Es muss also wohl mit dem theosophischen Weltbild zu tun haben, dass sich besonders in Europa das zentralperspektivische Sehen in der Kunst durchsetzte und auch dass in Frankreich die Fotografie erfunden wurde. Leider kann ich hierüber keine vertiefende Literatur finden. Und gerade hier interessiert es mich aber brennend. Warum wird bis heute über diesen Aspekt nicht reflektiert und befunden?
Die bildenden Künstler Europas, besonders die Maler, haben sich in der Moderne nach und nach von dem Diktat der Zentralperspektive seit der Erfindung der Fotografie abgewandt und einen Kampf um das ganzheitliche Sehen ausgefochten, der bis heute besteht. Die Auffassung von richtig und falsch eines abgebildeten Gegenstandes ist ein ungelöstes Streitobjekt geblieben und geistert im Gehirn eines jeden Lehrers und Laien herum. Auch für Künstler mit Bewusstsein dieser Tatsache kann das Phänomen belastend oder gar quälend bei der Herstellung von Kunstwerken sein oder zumindest eine wirkende Rolle spielen, wie auch immer geartet.
Maler haben sich schon in entfernter Zeit gegenseitig kritisiert, etwa in puncto Verwendung der Fotografie oder auch in der Unfähigkeit, ganzheitlich zu sehen und zu malen. So hat etwa Cézanne über Renoir gesagt: “Er ist nur Auge“, was mir gut gefällt, da diese Kritik die gefälligen Bilder von Renoir so treffend beschreibt. Cézanne sagt ja mit dieser Aussage nichts anderes, als dass Renoir bei all seiner Blumigkeit mit seinen Bildern im Gehirn stecken geblieben ist. Heute sind diesbezügliche Auseinandersetzungen im Kunstbereich nur noch spärlich zu finden und der Realismusstreit ist höchstens diffusen Bedenken gewichen.
Es spricht fast keiner mehr vom nahezu verschwundenen ganzheitlichen Weltbild. Aber in diesem Verschwinden ist eben der Teufel begraben. Da seit der Epoche der Aufklärung der Nachdruck auf der Vernunft in allen Bereichen bis heute besteht und die Menschheit auf der damals zurecht betonten Geisteskraft des Verstandes hängen geblieben ist, ist das Desaster im Hinblick auf die Ganzheitlichkeit groß. In der Überbetonung des Intellektes in Schule, Familie, Ausbildung, Beruf, Politik, Wirtschaft und eben auch auf dem Feld der Künste ist bis heute das Erbe der Aufklärung noch nicht überwunden worden. Der Mensch schreit aber nach der Überwindung, da er mit der Überbetonung der Denkfähigkeit und des Verstandes fehlgeleitet ist und sich vollkommen verfängt……eben besonders auch in einer immer komplexeren und differenzierter sich entwickelnden Welt. Die Süchte haben heute große Chancen, was allerorts zu beobachten ist. Zuckersucht, Alkoholsucht, Vergnügungssucht, Urlaubssucht, Kaufsucht, Bildschirmsucht, Tablettensucht uam.

Ich meine, dass gerade für den intelligenten aber eben dennoch unbewussten Zeitgenossen die Gefahr, sich der Handykamera und dem Handyfoto blind hinzugeben, groß ist. Wie die Masse Mensch ohnehin verwechselt ebenso er seine eigene Optik mehr und mehr mit der kühlen Optik der Kamera. Dies wird ja permanent durch die Bilderwelt am Computer, i-Pad und TV zementiert. Wer denkt denn schon daran, dass das Fernsehbild gar nicht dem Bild unserer Wahrnehmung entspricht sondern eben nur ein Kamerabild ist? Noch einmal: all diese Bilder sind fotografischen Ursprungs und damit Produkte des Gehirns. Ist die allerorts zu beobachtende Herzlosigkeit nicht auch im Lichte dieses Phänomens zu sehen? Wir laufen Gefahr, selbst wie das Kameraauge zu sehen und nicht mehr zu schauen. Schauen ist ganzheitlich, Sehen beruht auf einem ausschließenden zentralperspektivischen Jägerblick. Vielleicht wirft dieser Gedanke auch Verständnis auf die Ablehnung Bob Dylans auf jede Bilddokumentation seiner Konzerte, diesem Musiker tiefer Lyrik und feinster Melodien.
Komme ich zurück auf mein Anliegen, einem zunehmend größer werdenden Unmut gegenüber der Fotografiererei mit dem Smartphone. Wieso diese Massen an Fotos. Wieso dieses nicht mehr wegzudenkende Anhängsel der Kamera in der Tasche. Wieso dieses überschäumende Mitteilungsbedürfnis durch das Foto. Warum sind wir süchtig nach Fotos? Wird etwas erzählt, werden nicht selten Fotos im Handy dazu gezeigt. Zeige deine Fotos einem anderen und sogleich wird er dir ebenso seine Bilder zeigen. Es erscheint mir wie ein kindliches Gehabe, das sich immer nur auf den momentanen Augenblick bezieht und sofort nach Bestätigung verlangt. Möglichst soll die Emotion im selben Moment ihres Erlebens mitgeteilt werden, was ja unter den Jugendlichen Gang und Gebe ist. Je unmittelbarer die Teilnahme des anderen verlangt wird, desto stärker wird der kindliche Charakter dabei entlarvt: „Sieh mal hier bin ich.“ Und dann das Versenden von Ereignissen besonderer Art, auch an Gruppen: “Seht mal, ich bin die/der beste“. Und eben all das im fotografischen Abbild.
Nun ist es ja so, dass die Inhalte dieser erstellten Bilder, wie natürlich auch bei unseren Fotos alter Zeit, augenblicklich Geschichte sind. Es ist auf ihnen etwas zu sehen, was sich nie mehr in dieser Weise wiederholen wird. Wenn ein Ereignis bereits eine Woche alt ist und dir werden dann erst die entsprechenden Fotos gesandt, empfindest du sie schon als veraltet. „Ich gehe mit meinem Handy ins Bett“ sagte mir neulich eine junge Frau, die sich selbst geheiratet hat– kirchlich getraut vom Pastor–. Die Verlorenheit der Einzelwesen ist heute häufig extrem groß. Der Abschied von der Kindheit war und ist in unserem Kulturkreis ein schweres Unterfangen und begleitet uns oft bis ins Erwachsenenalter, ja bis zum Tod. Das Handy bietet ein Scheinreservoir, diesen Mangel abzufedern. Aber eben immer nur für einen sehr kurzen Moment. Es schreit “jetzt“, jetzt“, „jetzt“. Das Handyfoto suggeriert Gegenwärtigkeit.
Beobachte ich die Handyfotografen, entdecke ich, dass sie sich nach dem geschossenen Foto sofort der nächsten Situation zuwenden. Besonders bei Kunst-Ausstellungen kannst du beobachten, dass das Fotografieren als Ersatz für das Schauen herhält. Es wird auf dem jeweiligen Bild ein äußerst kurzer aktueller Zeitabschnitt abgebildet, –es geht dabei jeweils nur um hundertstel Sekunden–, der sogleich wieder der Vergangenheit angehört und dann in der schon gleichsam einbalsamierten Form nicht mehr gut der Selbstbestätigung des „Sieh mal hier bin ich“ dienen kann. In gewisser Weise ist das Foto als Abbild dem Tode geweiht. Wenn du dir die Mühe machst und all die Bilder ordnest und speicherst, siehst du sie in der Regel kaum wieder an. Das Gewesene macht uns leiden. Wir spüren, dass es uns traurig und sentimental macht, die Vergangenheit zu besingen. Dies alles war allerdings auch ebenso schon mit Papierfotografien und entsprechenden Fotoalben der Fall.

Warum nun hat das aktuelle Handyfotografieren derart massiv um sich gegriffen? Ich kenne reflektierte, besonnene Menschen, die zunächst das viele Fotografieren ablehnten und sich später, mit einem Mal, dann doch dem Gebrauch der kleinen Kamera mit Hingabe widmeten. Ich beobachte mich, wie ich sie z.B. bei dem Besuch von Kunstausstellungen einsetze, –was ja früher meist verboten war– und meine heimliche Freude daran genieße, wenn ich z.B. ein Rembrandt-Original in meinem privaten Kästchen habe. Was bedeutet diese Freude für meine Seele? Hier muss ich nun doch einräumen, dass dieses an spiritueller Tiefe nicht zu überbietende Selbstbildnis mit Samtbarett und einem Mantel mit Pelzkragen von Rembrandt selbst von einem Handyfoto nicht klein zu kriegen ist und auf die Ebene der Herzlosigkeit erniedrigt werden kann. Selbst in dieser abgespeckten Erscheinung auf meinem Pc liefert es der dürstenden Seele noch genügend Energie wahrer Schönheit. Übrigens hat Rembrandt dieses Wunder der Malerei im quasi naturalistischen Stil 1634 geschaffen, 200 Jahre vor Erfindung der Fotografie!
Bei indigenen Menschen entstand einst Angst, wenn sie fotografiert werden sollten. Sie fürchteten sich vor dem Auge der Kamera. Eine Afrikanerin geriet in Unruhe und entgegnete ihrem Sohn, als dieser einen schäbigen Fernseher erstand und ihn stolz mit nach Hause brachte: „Ich mag diese falschen Bilder nicht.“ Sie hatte mit dem Herzen geschaut. Mir fällt dazu ein, dass die Schwester von Roger Willemsen, Pianistin, jegliche Konserve von Musik ablehnte. Vielleicht gilt die unzureichende mediale Übertragung ja auch für die Musik… Von einigen fotorealistischen Malern war bekannt, dass sie am Ende verwirrten. Sie hatten lebensgroße, farbige Dias/ Porträtfotografien in akribisch naturalistischer Manier/ Ölmalerei kopiert in der Annahme, der Wirklichkeit nahe zu kommen. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie sind nicht selten verrückt geworden. Fotografien sind per se eben nicht unserem inneren ganzheitlichen Erleben zuzuordnen.
Noch einmal: Es ist eine andere Natur, die zur Kamera als zum Auge spricht; anders vor allem so, dass eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. Walter Benjamin erkannte es früh, dass die Optik des menschlichen Auges anders wahrnimmt als die Kamera es vermag, da das Auge, wie zuvor anhand von Otto Stelzer (x) erörtert, keine Maschine ist. Das sekundenschnelle Handyauge ist kühl und herzlos. Es gibt nicht wenige Fotografen, die ihr Leben lang mit viel Zeit und Mühe fotografieren und dennoch keine Bilder der Liebe zu Stande bringen. Wenn viele von ihnen auch in unserer Zeit leider häufig Anerkennung ernten, gehört ihnen mein Bedauern. Wenn wir dagegen an wunderbare Bilder einiger Fotografen denken, z.B. fällt mir die Ablichtung von Sarah Bernhardt ein,1860 von Nadar fotografiert, wird mir ganz warm ums Herz und ich weiß, dass es Fotografen und damit Fotografien mit Herzenergie gab und gibt. Die Porträtfotografie großer Meister war und ist der Kunst, dem Leben und der Liebe gewidmet. Sie überlistet die kühle Optik des Apparates mit ihrer künstlerischen Herzenergie und entreißt das Objekt dem Tode. Es bleibt nicht das Objekt sondern ein Bild der Schönheit und der Liebe.
Das Handyfoto weist selten über sich hinaus und vernichtet das Leben des Objektes. Es ergreift beliebige Ausschnitte und verlässt bedenkenlos den ganzheitlichen Blick. Es ist in meinen Augen gewalttätig. Interessant sind auch die Sprachfetzen, mit denen die schnellen Schnappschüsse,– welch passender Begriff!–, begleitet werden. Die Sprache der Kurzmitteilungen des Handys, denen nun liebend gern auch schnelle Fotos zugeordnet werden, ersetzt zunehmend das Briefe- Schreiben. Sie besteht aus Versatzstücken und kleinen Bilchen aus der Welt der Comics. Diese Art der Kurzmitteilungen lassen den Menschen verwahrlost zurück und schüren in ihrer minderen Qualität die Angst vor dem Tod. Diese Art einer oberflächlichen Kommunikation dient eher dem Wunsch nach Bewältigung momentaner Angst und der Bedürftigkeit einer kindlichen Seele.
Wie auch auf anderen Ebenen zu beobachten, nimmt das Tempo der Scheinbefriedigung der Ängste enorm zu: Stell das Radio an und du hörst auf der Stelle den Wetter- den Straßenzustandsbericht und aktuelle Nachrichten aus aller Welt, wohlgemerkt durch die maßgebende Meinung formuliert und gefiltert,– pausenlos, lächelnd und in immer neuer Art und Weise; geradezu aufoktroyiert. Je höher der Lebensstandard, desto größer die Angst. In extrem zunehmendem Maße ist sie das Thema Nummer eins: Angst.
Einst im Mittelalter als eine der sieben Todsünden wurde die Angst von der Institution der Kirche wohlweislich aus dem Katalog der Sünden entfernt, da mit ihr der brave gottesfürchtige Mensch leicht verfügbar gemacht werden konnte. Und leider hat sich eben der vernünftige Bürger bis heute davon nicht befreit. Im Gegenteil. Angst hat uns im Griff. Um ihr zu entkommen, gerieren sich die Süchte aller Art in extrem zunehmender Form. Noch ein Bier, wieder ein neues Kleidungsstück, eine Luxusreise auf dem Kreuzfahrtschiff, eine schnelle Urlaubsreise, noch ein Brötchen, eine Zigarette, ein Joint, ein schnelleres und größeres Auto, eine neue Frau, ein neues Handy, ein besserer Computer, eine neue Anlage, ein neues Haus und eben pausenlos ein Foto, um all dies zu zeigen und wieder und immer wieder und schneller und immer schneller. Die Einsamkeit wird zunehmend schwerer zu ertragen. Dem Tod wirst du nicht entkommen. Er ist dir hautnah auf den Fersen. Und mit jeder Sucht wird er dich nur noch eher holen. Die Masse und die Geschwindigkeit der Smartphone-Fotografien haben den Todes-Charakter des Fotos, der ihm latent immer schon inne war, vollständig entlarvt. Nicht mehr und nicht weniger.
Auch wenn man sich bemüht, in der Photographie etwas Lebendiges zu sehen (und die Verbissenheit, mit der man „Lebensnähe“ herzustellen sucht, kann nur die mythische Verleugnung eines Unbehagens gegenüber dem Tod sein), so ist die Photographie doch eine Art urtümlichen Theaters, eine Art von „Lebendem Bild“: die bildliche Darstellung des reglosen,……… Gesichtes, in der wir die Toten sehen. (Roland Barthes, Die helle Kammer, S. 41)
Der Schmerz, sich auf diesen voreiligen Bildern zu sehen, ist nur groß, da sie eben letztlich nichts als den Tod zeigen. Mein Unmut auf das Handyfoto berührt meine Angst vor dem Tod. Die Vergangenheit gehört dem Reich der Leichen und des Todes an. Ich lasse das Vergangene einfach los, da es, ebenso wie der Tod, gar nicht existiert. Ich will keine Bilder von Mumien mehr sammeln, weder die Mumie meiner Person noch die meiner durch das schnelle Foto einbalsamierten Mitmenschen.