Manifest
Tagebuchblatt 17. März 2022
Der Hass geht wieder um.
Als ich heute morgen hörte, dass ganz Bremen heute Abend eine Menschen-Lichterkette an der Weser entlang veranstalten wird und sich schon Tausende angemeldet haben, um ihre Solidarität mit der Ukraine kund zu tun und ich vernahm, dass von den Weser-Booten aus Imagine von John Lennon dazu gespielt werden soll, wurde in mir nun doch eine Welle der Übelkeit und des Protestes laut. Wie hatten wir damals den neuen Song geliebt und allerdings gleichzeitig gehofft, dass er doch bloß niemals für eine falsch verstandene Friedenssoße verwandt werden würde. Und genau das soll nun geschehen.
Alle zusammen für…gegen….
Es ist Krieg und natürlich freue ich mich von Herzen, wenn unsere Jugend sich für den Frieden engagiert. Was mich aber sehr ungut berührt, ist dabei die moralische Haltung, die zur Zeit zersetzend auf das gesellschaftliche Klima einwirkt. Sie treibt uns Menschen im Privaten und im Arbeitsbereich um, wird aber auch offen proklamiert. Auch hinter dieser Art Kundgebungen steht die Moral: Wir die Guten sind gegen die anderen die Bösen, die Ukrainer sind die Guten, die Russen, –oder zumindest Putin–, sind die Schlechten, die Europäer sind die Guten, die Russen sind die Schlechten u.ä. Ich halte es für mehr als bedenklich und auch in dieser Sache für unangemessen, die Kinder in ein Gut-Böse-Schema hinein zu ziehen. Der Wahn von Ausgrenzung, Missachtung, gegenseitiger Be- bzw. Verurteilung der Corona- Zeit hat sich verlagert. Verbreitete Ablehnung bis zum Hass auf die Ungeimpften richtet sich jetzt gegen die Russen, diesem wunderbaren Volk mit einer tiefen Seele, die ich über die Kultur, die Musik und die Künste so sehr schätze.
Einer russischen Schneiderin, die seit 20 Jahren in Deutschland arbeitet, fehlen schlagartig ihre Kunden…
Es ist eben kein Frieden, wenn er sich auf Kosten von anderen ausbreiten soll. Warum haben denn nicht in den letzten Jahren ähnliche Bekundungen wie heute Abend in Bremen stattgefunden?… Z.B. für die ertrinkenden Flüchtlinge im Mittelmeer, für die Millionen an Hunger sterbenden Kinder in Afrika, für das Massensterben und Abschlachten der schönsten und wertvollsten Tiere unseres Planeten und vieles andere mehr…?
So möchte ich nun doch das Herz meines Verstandes zum derzeitigen politischen, kriegerischen Geschehen sprechen lassen und dazu beitragen ein schon in den Medien veröffentlichtes Manifest zu verbreiten. Vielleicht auch, um allerwenigstens der Gefahr ein wenig entgegen zu wirken, nicht später einmal von unseren Enkeln gefragt zu werden: Warum habt ihr denn bloß nichts gemacht Sigrid+Opa?
Obwohl ich mit den Äußerungen meiner künstlerischen Tätigkeit immer auch, mehr oder weniger bewusst, die Zeit, in der ich lebe, im Auge habe, möchte ich heute meinem sprachlichen, ganz direkten Brain den Vorzug lassen. Das haben etliche Künstler in extremen Situationen immer schon gemacht. So schließe ich mich von Herzen und in Überzeugung dem unten stehenden Manifest an.
Manifest gegen den Krieg
Es ist höchste Zeit, dass sich die Kriegsgegner aller Länder zusammenschließen, bevor es zu spät ist. Die Gefahr des Einsatzes nuklearer Waffen ist real. Wir müssen alles unternehmen, um das zu verhindern. Dies ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln!
Aktivistinnen und Aktivisten der sozialen Bewegungen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Kulturschaffende aller Länder! Das Ungeheuerliche ist geschehen: Der Krieg ist endgültig in unseren Alltag in Europa zurückgekehrt. Derzeit werden die großen Städte in der Ukraine zu Schlachtfeldern. Friedliche Menschen werden von Granaten und Raketen zerfetzt oder unter den Trümmern ihrer Behausungen begraben. Wer die barbarischen Angriffe in den Kellern oder U-Bahnschächten überlebt, wird durch Hunger, Kälte, Wasserentzug und Dunkelheit in die Flucht getrieben. Die Barbarei hält wieder Einzug.
Seit mehr als 20 Jahren hat sich dieses Inferno angebahnt und immer mehr ausgebreitet: Zuerst in Tschetschenien und Jugoslawien, dann in Afghanistan, im Irak und bis heute in Jemen, Syrien und anderen Regionen des Nahen Ostens. Nun hat es erneut Europa erreicht und mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine katastrophale Ausmaße angenommen. Die überbauten und von Millionen Menschen bewohnten großstädtischen Agglomerationen wurden zur wichtigsten Kampfzone der beiden Armeen. Die Brutalisierung der militärischen Konflikte hat vielfältige Ursachen. In ihr kam die wachsende Rivalität der imperialistischen Großmächte zum Ausdruck, die sich in den letzten Jahrzehnten hinter den Fassaden der weltwirtschaftlichen Globalisierung aufbaute. Das kapitalistische Weltsystem zeigte wieder einmal sein Janusgesicht. Einerseits setzte es auf den renditeträchtigen Weltfrieden globalisierter Güterketten und Informationssysteme, um die Ausbeutung der arbeitenden Klassen neu abzustufen und bis in die letzten Winkel des Planeten voranzutreiben. Andererseits entfesselte es immer gewaltsamere Kämpfe um geostrategische Einflusszonen. Typisch dafür ist China, das sein Projekt der Kontinente verbindenden „Neuen Seidenstraße“ mit territorialen Ansprüchen auf Taiwan und das Südchinesische Meer kombiniert hat. Typisch dafür sind aber auch die USA. Um seine Welthegemonie ökonomisch zu sichern, hat Washington seinen ostasiatischen Gegenspieler zur verlängerten Werkbank seines Produktionspotenzials gemacht. Gleichzeitig sabotiert Washington das chinesische Projekt der „Neuen Seidenstraße“ auf allen Ebenen und unternahm alles, um ein friedliches ökonomisches Verhältnis zwischen China, Russland und Europa zu untergraben.
Parallel dazu hat die US-Administration ihr militärisches Bündnissystem, die NATO, gegen die Russische Föderation in Stellung gebracht, um die Integration des Nachfolgers des untergegangenen Sowjet-Imperiums in ein erweitertes Europa mit stabiler Friedensordnung und gegenseitigen Sicherheitsgarantien zu verhindern. Dass der ökonomische Druck hier den gleichen Stellenwert hat wie in der Positionierung gegen China, zeigt die Sabotage von North Stream 2. Was den USA Russland gegenüber gelang, erwies sich im Fall China als Bumerang und begünstigte Chinas Aufstieg zur konkurrierenden Weltmacht.
Als dritter Faktor der Barbarisierung kam schließlich der islamistische Fundamentalismus ins Spiel, eine zutiefst regressive Variante des Anti-Imperialismus, die einen patriarchalen Gottesstaat anstrebt. Menschheitsbedrohend wurden diese Entwicklungen dadurch, dass alle beteiligten Konfliktparteien auf Kriegsmaterial zurückgreifen konnten, in dem sich die technologischen Schübe der kapitalistischen Entwicklung zu einer immer größeren Vernichtungskraft der konventionellen Waffensysteme bündeln.
Nur vor diesem Hintergrund ist der am 24. Februar entfesselte Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine zu verstehen. Aus diesen Zusammenhängen erklärt sich auch die Vorgeschichte. Als das Sowjetimperium zusammenbrach, erkauften sich die USA die russische Zustimmung zur Einbeziehung des geeinten Deutschlands in die NATO gegen die Zusage, die NATO nicht weiter nach Osteuropa auszudehnen. Zu dieser Zeit standen die Chancen zur Demokratisierung und Öffnung Russlands in Richtung Europa recht günstig. Diese Chance wurde jedoch nach wenigen Jahren vertan. Seit 1997 begann die unterschwellige und schließlich auch offen vorangetriebene Osterweiterung der NATO sowie in ihrem Schlepptau der Europäischen Union.
Von der russischen Machtelite und der Mehrheit der Bevölkerung wurde diese Exklusion als Demütigung empfunden. Es gab auch gegenläufige Tendenzen zur Verständigung, insbesondere in Frankreich und Deutschland; sie wurden jedoch durch das neue Sonderbündnis der USA mit den osteuropäischen Staaten zunichte gemacht. Durch diese Hybris wurden in Russland die äußeren Bedingungen für die Durchsetzung einer imperialistischen Revisionsstrategie geschaffen, die von Teilen der Machtelite seit dem Untergang der Sowjetunion propagiert wurde und dann in der Putin-Ära gipfelte.
Auch die von diesem Revisionskurs ausgehenden Warnsignale – Georgien-Krieg 2008 und Krim-Annexion 2014 – wurden missachtet. Stattdessen wurde in der Ukraine der Aufbau der NATO-Infrastruktur vorangetrieben, obwohl sich das Land seit 2014 im Bürgerkrieg mit indirekter Beteiligung Russlands befand. Die gemeinsamen Manöver der ukrainischen Streitkräfte mit der NATO im September 2021 markierten dann das Überschreiten der roten Linie. Das direkte Vorrücken der NATO in 1.200 km Länge an die russische Westgrenze war für die russische Macht- und Militärelite unerträglich, und sie entschied sich zum Angriffskrieg gegen die Ukraine vor deren formellem Eintritt in die NATO.
Bei diesen Überlegungen geht es nicht etwa um eine rechtfertigende Apologetik. Der Aggressionskrieg gegen die Ukraine kann durch nichts legitimiert werden. Es geht nur um die Klarstellung, dass diesem katastrophalen Angriffskrieg imperialistische Aggressionsakte auch von Seiten des Westens voraufgingen, die in Putin-Russland eine allen imperialistischen Machteliten gemeinsame geostrategische Logik provozierten. Man stelle sich vor, die Russische Föderation hätte mit Kuba und Mexiko einen Militärpakt geschlossen und würde in der Karibik und direkt vor der Südgrenze der USA eine gegen sie gerichtete militärische Infrastruktur aufbauen! Dieser Vergleich macht deutlich, dass wir in diesem katastrophalen Poker der imperialistischen Mächte nicht Partei sein können.
Wir verurteilen die russische Aggression aufs Schärfste. Wir lehnen aber auch die Machteliten des Westens mit aller Entschiedenheit ab. Statt sich das Scheitern ihrer maßlosen Expansionsziele einzugestehen, drehen sie jetzt an der Eskalationsschraube und machen sich für einen umfassenden Wirtschaftskrieg sowie für weit reichende militärische Hilfsaktionen und Waffenlieferungen stark.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir mit dieser Positionierung gegen alle direkten wie indirekten Parteien und Akteure des Ukraine-Kriegs gegenwärtig nur eine verschwindende Minderheit darstellen. Aber wir dürfen unsere Identität, unsere Orientierung an den sozialen und emanzipatorischen Kämpfen für Gleichheit und Selbstbestimmung nicht an die Logik des imperialistischen Kriegs und den Zynismus der Kriegshetzer auf allen Seiten abtreten.
Wir sind dafür mitverantwortlich, dass das militärische Gemetzel, das Töten von Zivilisten, die Bombardierungen, die Aushungerung und die Massenvertreibung der ukrainischen Bevölkerung sofort aufhören und die Zerstörung der sozialen Infrastrukturen gestoppt wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass die NATO und der Westen die Ukraine bis zum letzten wehrfähigen Ukrainer verteidigen lassen und der russische Generalstab das Sterben zigtausender Soldaten – überwiegend Wehrpflichtige – in Kauf nimmt.
Wir wollen aber auch nicht später von unseren Kindern und Enkeln gefragt werden, warum wir nichts gegen die Ausweitung des Ukraine-Konflikts zu einem europäischen Großkrieg oder gar zu einem nuklearen Armageddon unternommen haben. Diese Gefahr ist aufgrund der massiven militärischen Unterstützung seitens der USA und der NATO sowie der umfassenden Wirtschaftssanktionen ständig gewachsen. Wir sind keine passiven Zuschauer. Wenn noch weiter an der Eskalationsschraube gedreht wird, könnten wir in den nächsten Wochen genauso mit den Schrecken des Kriegs konfrontiert sein wie gegenwärtig der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Wir fordern:
(1) Einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug aller Kampftruppen aus allen städtischen Agglomerationen
(2) Den Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine. Die Entwaffnung und Auflösung aller paramilitärischen Verbände auf dem Staatsgebiet der Ukraine
(3) Die sofortige Beendigung der Waffenlieferungen und der verdeckten Beteiligung der NATO am Krieg
(4) Die sofortige Aufhebung der Sanktionen und die Beendigung des Wirtschaftskriegs
(5) Die Aufnahme von Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter der Aufsicht der OSZE. Zusicherung der unbefristeten Neutralität der Ukraine und Abbau der NATO-Infrastruktur in der Ukraine als Gegenleistung für umfassende und international abgesicherte russische Sicherheitsgarantien.
(6) Die Etablierung der Ukraine als unabhängiger Brückenstaat zwischen NATO/EU und Russland unter dem Dach der OSZE. Bilaterale Wiederaufbau- und Wirtschaftsverträge der Ukraine mit der EU und der post- sowjetischen Zollunion.
Wir sind uns sehr wohl darüber im Klaren, dass diese Forderungen so lange in der Luft hängen, wie sie nicht von den sozialen Bewegungen, den arbeitenden Klassen und den kritischen Intelligenzschichten in einer international koordinierten Kraftanstrengung erzwungen werden.
Es ist deshalb höchste Zeit zur Mobilisierung eines breiten antimilitaristischen Widerstands, der umfassend und transnational in die sozialen Kämpfe integriert wird. Dieses Vorgehen ist keineswegs chancenlos, wie die Einbeziehung des Widerstands gegen den Vietnamkrieg in die globale Sozialrevolte der späten 1960er Jahre gezeigt hat.
Wir schlagen deshalb als erste Schritte zur Mobilisierung des Widerstands vor:
(1) Den Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine und die übrigen Kriegsgebiete der Welt durch Boykottaktionen
(2) Den Start einer Kampagne zur Verweigerung des Militärdiensts in allen Armeen, die direkt oder indirekt am Ukraine-Krieg beteiligt sind: Missachtung der Einberufungsbefehle, Befehlsverweigerung, Desertion aus den Kampftruppen und Nachschubeinheiten Russlands, der Ukraine und der NATO. Aufbau einer breiten Solidaritätsbewegung für die Kriegsdienstverweigerer
(3) Die Beteiligung an den Hilfsaktionen für unterschiedslos alle Geflüchteten aus der Ukraine und den anderen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten
(4) Es ist höchste Zeit, gegen die Desorientierung der Friedens- und Protestbewegung Position zu beziehen. Die Massendemonstrationen auf der ganzen Welt und die Interessen der arbeitenden Klassen sind gegen alle imperialistischen Mächte gerichtet und dürfen nicht einseitig Partei ergreifen. Ihr Ziel war und ist die Überwindung von Ausbeutung, patriarchaler Unterdrückung, Rassismus, Nationalismus, Naturzerstörung und die Durchsetzung der individuellen und sozialen Menschenrechte. Nun ist der Kampf gegen die wieder aufgelebte Barbarei hinzugekommen. Es ist höchste Zeit, dass sich die Kriegsgegner aller Länder
zusammenschließen, bevor es zu spät ist. Die Gefahr des Einsatzes nuklearer Waffen ist real. Wir müssen alles unternehmen, um das zu verhindern. Dies ist unsere Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln!
14.3.2022
Erstunterzeichner:
Sergio Bologna, Historiker und Logistikberater, Milano
Rüdiger Hachtmann, Historiker, Berlin
Erik Merks, Gewerkschaftsfunktionär i.R., Hamburg
Karl Heinz Roth, Historiker und Mediziner, Bremen
Bernd Schrader, Soziologe, Hannover
Hans Schulz, Arzt, Hamburg-Harburg
Zum Manifest siehe auch Telepolis. Eine Unterschriftenliste wird eingerichtet. Sobald sie fertig ist, wird der Link hier gepostet.
10 Illustrationen aus:
Künstlerbuch
in the morning of the sword, 2009- 2010, 21x 20,8cm, 63 Seiten
Farbstift, Chinatusche, Collage a/Papier,