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Der schmale Weg

Der schmale Weg

Ihr erster Freund war ein Nachbarsjunge. Immer wenn sie seine Schwester, ihre Freundin, traf, versuchte sie, seinen Blick zu erhaschen und spürte, dass er es auch wollte. Dann durchzog sie eine süße, bisher nicht gekannte Empfindung. Sie schrieben sich bald kleine Briefe. Auf karierten Zetteln, die vorsichtig mit Bleistift beschrieben, dann zusammengefaltet und verklebt wurden, tauschten sie schüchterne Beobachtungen aus, wie z.B. Ich habe heute die gleichen Skistiefel bekommen wie du, nur mit einer anderen Farbe der kleinen Lederstreifen, deine sind grün und meine rot. Dann wurde das Briefchen der eingeweihten, jeweils älteren Schwester überreicht, die, wie auch die beiden jüngeren Schwestern, miteinander befreundet waren und sogar denselben Namen trugen. Es wurde nun gebangt, ob das Schreiben auch wirklich seinen Adressaten erreichen würde und ob eine Antwort nicht allzu lange auf sich warten müsste. Eine Erwiderung in Form eines ebenso gefalteten und verklebten Karo- Papiers zu erhalten war ein ungewohnt aufregendes Ereignis. In Vorsicht vor eventuellen Blicken wurde der kleine Liebesbrief geöffnet und die ersten Worte eines Verehrers wurden begierig ins verliebte Herz geschlossen. Das kindliche Pärchen wagte sich über diesen geheimen erotischen Kontakt nicht hinaus. Keine weitere Annäherung, z.B. durch Sprache, erst recht nicht durch körperliche Berührung schien erlaubt und möglich. Sie fühlte sich sehr hingezogen. Wenn sich aber eine Möglichkeit der Annäherung zeigte, z.B. durch Begegnungen der älteren Schwestern, wichen die beiden Verliebten ängstlich aus. So zog sich diese kleine Geschichte lange hin. Sie schwärmte für ihren ersten Freund und betete jeden Abend für ihn und seine Familie, da es hieß, sein Vater wäre ein Nazi.
Eines Tages begegneten sich die beiden auf einem schmalen Weg, der in den nächsten Ort führte und von dem nicht abgewichen werden konnte. Sie sahen sich schon von weitem und gingen aufeinander zu. Sie mussten. Außer wegzulaufen, gab es keine Möglichkeit. War es nun an der Zeit? Hatte das Schicksal entschieden? Sie waren sich jetzt nah, so nah, wie niemals zuvor. Wie still es war! Kein Mensch in der Nähe. Nur Sträucher und Bäume. Der Junge und das Mädchen blieben voreinander stehen und schauten sich zum ersten Mal in die Augen. Sie sprachen kein Wort. Liebe durchströmte den Raum, die Zeit blieb stehen. Ohne sich zu berühren gingen die beiden sprachlos und vorsichtig aneinander vorbei. Sie atmete tief. Sie sahen sich nicht um und gingen ihrer Wege. Diesem Ereignis folgten keine weiteren Begegnungen und die Liebesgeschichte schwebte wie ein Falter ins Firmament.