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séduction

s   é   d   u   c   t   i   o   n

Ein gezielter kurzer Besuch am Kiosk Bahnhof Blankenese. Meine Absicht ist sonnenklar: 

Bonjour, je m‘ appelle Sigrid Maria. Die Vogue will ich erstehen und mit diesem glanzvollen Schatz auf das La Maison du Pain zusteuern, dort in französischer Atmosphäre bei Café und Croissant mich entspannen, in der Vogue blättern, die Top- Fotografien der Haute Couture in mich aufnehmen und atmen, genießen, lächeln, innere Fragen stellen, unterschwellige Wünsche zulassen, sanft beurteilen…

Mein Blick wandert im Store über eine endlose Kette von Zeitschriften und sucht die Vogue. Mein Blick wird unruhig, will finden, was der Seele Befriedigung verspricht. Aber die Monatsausgabe der Königin der Modemagazine ist nicht zu finden. Letzten Monat habe ich sie doch noch erstanden? Der gut informierte Kassierer antwortet sanft, dass die Vogue es eventuell nicht mehr schafft und wenn ich Glück hätte, würde sie evtl. gerade – und verwandte dann einen Begriff aus der neudeutschen Sprache …– Aber es wäre ja auch eine Qualität und ein Preis !… und dann lächelte er mitleidig. Soll denn langsam alles sterben, was Qualität hat? Die Vogue, ja diesen renommierten Luxus hatten wir uns in seltenen Fällen einst während des Kunststudiums geleistet…

Und dann begann ich zu suchen, nach einem Ersatz, von dem ich wusste, das es ihn nicht geben könne. Mein Blick blieb wie automatisiert auf dem Cover einer neuen Zeitschrift hängen: séduction. Unglaublich! Was ist denn das!? Nach leiser Inspektion gehe ich zur Kasse und trage den Schatz mit mir ins Café. Alle Achtung. Ich bin gebannt, blättere interessiert und lese in diesem neuen Magazin ganz anderer Qualität. Das Cover, immer wieder das Cover!

Inzwischen habe ich zwei Ausgaben erstanden, wegen des Covers, und stelle eine ins Bücherregal zu einer Reihe ähnlicher Blätter, die mich faszinierten, nicht losließen und bewahrt werden wollen. 

Nun kann ich bedenkenlos mit der einen Zeitschrift umgehen. Was ist? Ich stelle sie auf dem Tisch auf, fotografiere dieses Porträt, für das ich keine Vokabel finden möchte, da jedes Wort einem Frevel an seiner Ausstrahlung gleichkäme. Ich suche mir eine entsprechende Leinwand, um meine Faszination dieses Wesens evtl. in Öl zu bannen und um es dann in die Reihe einiger Porträts von 2003 zu stellen. Ob es mir gelingen könnte?

Von Zeit zu Zeit durchströmt mich eine ziehende Attraktion, fotografisch arbeiten zu wollen. Seltsam unabhängig von meiner derzeitigen Absicht, bildnerisch gänzlich frei zu arbeiten, entsteht dieser diametrale Wunsch nach Erstellung eines Porträts in klassisch naturalistischer Ölmalerei. Es ist die alte Anziehungskraft des fotografischen Abbildes, die mich nicht loslässt. Die immer wieder auftaucht, obwohl ich doch so sehr weiß, dass gerade die Fotografie uns den schweren Brocken der illusionären Welt auftischt. Inzwischen ist ja die ganze Welt von diesem Phänomen besessen. Die Menschheit ist unumkehrbar beherrscht von der Gefahr, nicht mehr zu unterscheiden! Die Fotografie hat uns tief ergriffen; sie füttert unser Ego mit der Einbalsamierung unseres Körpers und scheint ihn unsterblich zu machen. Es ist schwer, diesem über Jahrhunderte in unserem Seelenhaushalt verankerten Phänomen zu entkommen. Interessant für mich ist, dass die Fotografie, ausgehend von Europa, genau gesagt Frankreich, innerhalb von nur einem Jahrhundert alle Länder der Erde ergriffen hat und dass sämtliche Kulturen mit den unterschiedlichsten Ausprägungen sich von ihr inzwischen weitgehend beherrschen lassen.

 In der Zeit vor der folgenschweren Erfindung der Fotografie ist eine Entsprechung in der in Europa aufkommenden Zentralperspektive zu sehen, –auf deren Erfindung die Fotografie ja fußt–, die alle Künste von Beginn an beeinflusste. 
Als Beispiel die Maler der Renaissance: Viele Werke der Frührenaissance sind in ihrer Wirkung von tiefer Schönheit. Ihre Vertreter, z.B. Giotto oder Cimabue, haben nur eben an den keimenden Errungenschaften des perspektivischen Sehens geschnuppert. Das dem Herz und dem Himmel verpflichtete eher bescheidene Sehen des mittelalterlichen Menschen hatte noch die Oberhand. Die Maler der Hochrenaissance, wie z.B. Michelangelo und Leonardo, waren dann den bahnbrechenden Ergebnissen des perspektivischen Sehens bereits hingegeben. Die beginnende Individuation des Menschen der Renaissance war die Geburt des Ego. Das zunehmend rationalisierte abständige Sehen führte zur Darstellung von Bildnissen, ganzen Personen und räumlichen Situationen. Sehr bald erweiterte sich die perspektivisch beeinflusste Darstellung in den bildenden Künsten auf die Architektur, die Bildhauerei, die Historienmalerei und Landschaftsmalerei.

Seit der Renaissance wurde das Grab der süchtigen Seele geschaufelt und das Ego erhielt das Futter, das es so liebt: Vergleichende Betrachtung von Künstlern und deren Auftraggebern, Kämpfe um Anerkennung u.a.m. Die Todes-Sehnsucht laviert sich ab dieser Zeit unaufhaltsam in immer neuen Kleidern durch die Jahrhunderte. Das naturalistische Sehen und Darstellen gehörte nun in Europa zum guten Ton der Kunst. Selbst die Maler ab dem 18. Jahrhundert, die sich in Malerei und Zeichnung teilweise für eine Abkehr von der naturalistischen Sicht verwandten, waren insgeheim der Passion für die 1830 entstehende Fotografie erlegen. Und wenn es nur heimlich war, wie man z.B. von etlichen Impressionisten weiß. Die Macht des perspektivischen Sehens hatte ihre Krallen ausgefahren. Dem Zauber der frühen Fotografien ist kaum zu widerstehen. Die Einbalsamierung der Zeit in Form von Porträts war geboren. Die Abkehr vom Göttlichen des religiösen Menschen, die sich in der Aufklärung spiegelt, führt zu verheerenden Schäden der Seele. Vernunft statt Gottergebenheit war der neue Leitgedanke. Und vergessen war der verinnerlichte Mensch. Ein bisher nicht wieder gut gemachtes Desaster. Der Macht des Kirchendogmas zu entkommen bedeutet leider für die meisten Menschen bis heute, dass sie sich ausschließlich auf den Verstand verlassen. Es liegt auf der Hand, dass nun das Ego herrscht und damit die Sucht ein leichtes Spiel hat. Dem Verstand fehlt ja das Herz, die Verinnerlichung, der durch den Priester zumindest Befriedung (wenn auch zu einem hohen Preis) verschafft wurde und dieses Phänomen muss ersetzt werden. Die Todes-Sehnsucht der Künstler des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war groß und en vogue, was sich an etlichen Biografien leicht ablesen lässt. Die tiefe warme Naivität der darstellenden Künste aus der Zeit vor all diesem, in der sich das rein naturalistische, herzbezogene Sehen mit erkennender wissenschafts- gläubiger Perspektive mischten, –wie etwa heute nur noch im Kinde–, ist einer Zeit gewichen, die sich stetig verunreinigte. Die Sehnsucht nach dem Urzustand weicht der Sucht nach dem Tode. Ignorant auf immer durchseucht.

Auch etliche Künstler freier Malerei der Moderne haben mehr oder weniger mit der Fotografie geliebäugelt. Z.B. Cy Twombly, amerikanischer Altmeister gestischer, expressiver Malerei und Objektkunst, war neben seiner Arbeit als Maler und Zeichner leidenschaftlicher Fotograf. Viele Künstler sind weiterhin jenseits der Fotografie der freien Malerei treu. Interessant ist für mich als Malerin, dass das ehemals der Religion verpflichtete Bildformat des Triptychons bis heute  von etlichen Künstlern angewandt wird. 

séduction, die ziehende Faszination dieses Porträts muss von mir angeschaut und ergründet werden, vorher kann ich in meiner Seele nicht umblättern. Mir ist einerlei, wer das Model dieses Wesens ist, wer diese Fotografie gemacht hat und wer das Cover gestaltet hat. Ich will nur meine unstillbare Sucht nach der Schönheit dieses Abbildes verstehen, um dem Sog zu entkommen. Ja es ist eine Fotografie. Es ist eine andere Natur, die zur Kamera als die zum Auge spricht. Dieser Gedanke von W. Benjamin entlarvt unseren Glauben an die scheinbare Wirklichkeit des Lichtbildes. Wir benutzen die Fotografien, um uns in der Welt der Illusion einzurichten. Die ganze Welt, erst recht des bewegten Bildes, ist eine Scheinwirklichkeit.
Das Foto dieses Gesichts steht für meinen mich ständig umtreibenden Hunger nach Schönheit, meine fast abgöttische Verehrung schöner Phänomene. Ich trage nahezu immer den inneren Wunsch mit mir herum, in einem Blütenmeer der schönsten Farben, Stoffe, Blüten, Geschirre, Kleider Räume, Gärten, Menschen, Tiere, Lieder, Instrumente zu leben, zu genießen, mich einzuhüllen. Dann wünsche ich mir Zofen, Gärtnerinnen und Köche, sodass ich nichts tun muss, außer mich der Schönheit von ganzem Herzen zu widmen, in ihr zu baden, sie zu genießen und sie zu teilen mit Menschen, die genau denselben Wunsch in sich tragen. Sogleich denke ich an Königshöfe, Paläste, Gärten, Feste.

 Die blaue Villa von YSL in Marrakesch – Jardin Majorelle. Hier allerdings lauert sofort eine riesen Gefahr. Der Modekönig YSL war ein sensibler genialer Künstler, der die Frauen über alles liebte und sein Leben ihrer Kleidung widmete. Er opferte ihnen sein Leben. Er war ein dem Tode geweihter Drogenkünstler. Er lebte in einer Blase aus äußerem Reichtum, schöpferischer Arbeit und der Hingabe an selbstzerstörerische Süchte. Sehe ich die Bilder der Blauen Villa gelange ich in einen Zustand allerhöchster Unruhe. Die Schönheit, die ich auf diesen Fotografien sehe, spüre und nach der ich mich verzehre, ist doch keine abzulehnende!! 

Ich habe im Schrank ein Kostüm aus schwarzem Seidensamt von Armani, das ich so gut wie nie trage. Es ist mein schönstes Kleidungsstück. Ich hätte gern ausschließlich Kleidungsstücke dieser Qualität, Möbel derselben Qualität, ein Haus inmitten Gärten eben auch solch feinster Qualität, wie eben z.B. Die blaue Villa von YSL in Marrakesch.

Ich möchte jeden Tag von Japanern in edlen Restaurants bedient werden, Geschirre, Bestecke und Teller serviert bekommen, die den entsprechenden Speisen und Getränken adäquat sind. Ich hasse unsere derbe Becher-Kultur, die Strumpfsocken-Mentalität der grünen Familien, die schon in der Haustür dem Besucher den Atem verschlägt. Und diese biedere, auf mich geizige wirkende Aufforderung, als Gast Barfuß oder auf Strümpfen zu laufen! Unter gedeckten Tischen mit fein gekochten Speisen sitzen dann Menschen mit nackten Füßen und persönlichen Socken. Das Barbarentum in einer hoch zivilisierten Welt ergießt sich in derbe Verhaltensweisen, die zum dominanten Kodex erklärt werden und jedem bedenkenlos abverlangt werden. 

Aber auch ohne meinen Furor bleibt meine Sehnsucht nach tiefer Schönheit, einer klaren und manchmal messerscharfen Schönheit von guter Architektur und edlem Design, nach einer eleganten oder zumindest schlichten Schönheit erwählter, zum Anlass und seinem Träger passender, Kleidung, in Stoff, Schnitt und Design. Das ist keine Frage des Geldes. Sieh in eine südländische kleine Restauration. Vielleicht auch dort nicht mehr?

Die Zeit erfordert neues Design, neue Kleidung, neue Kombinationen von allem und jedem. Aber auch hier, selbst mit allem, was dem Zeitphänomen dieser rasanten Moderne angemessen ist, ist Schönheit vollkommen möglich. Hin und wieder wird die nicht sterbende Lust an der Schönheit auch in dieser derben Rucksackzeit, die den meisten Menschen mit den weiß besohlten Turnschuhen nur einen Sack auf den Rücken schnallt, ja dennoch weiterhin sichtbar. Kürzlich sah ich ein cooles junges Mädchen auf einem Art Rennrad ohne Gepäckträger. Wehendes langes feines Haar, schöner Arsch in engen Hosen, ein süßer Rucksack an langen Bändern, segelte sie dahin. Das Mädchen war wunderschön, absolut modern und zeitgemäß.

Mein Blick wandert auf ein frühes Porträt von Rembrandt Selbstbildnis mit Samtbarett,1634. Es ist mehr als schön. Es ist von einer warmen Tiefe, neben der das Foto séduction schlagartig an Faszination verliert. Es verliert nicht nur. Sondern das Bildnis von Rembrandt entlarvt. Die warme Tiefe der dunklen Farben, der leise und doch ergreifende Kontrast von Formen und Farben, die beseelte Darstellung von Samt und Pelz. Und der Ausdruck, sein Blick. Welche endlose Tiefe dieses doch direkten mutigen Blicks. Hingabe.

Rembrandt malte dieses Porträt 200 Jahre vor der Erfindung der Fotografie. Er hat die Errungenschaften perspektivischen Sehens auf eine Weise seiner künstlerischen Absicht dienstbar gemacht, dass mir der Atem stillsteht.
Wohin ist es nur mit uns gekommen? Das Handy ist zum Körperteil des Menschen geworden. Er findet sich ohne diese Geisel kaum noch zurecht. Unsere Liebe zur illusionären Welt hat sich beängstigend verselbständigt.
Diese Fotografie warnt mich. Sie ruft mir zu: mach die Augen auf, lass dich nicht vom schönen Schein verführen!

Wo ist sie hin die Schönheit der Blauen Villa von YSL in Marrakesch, wenn die Touristen sich an ihr lüstern ergötzen? Wo ist die Schönheit meines schwarz-samtenen Kostüms im Schrank, wenn es einstaubt? Was hat es denn mit dieser ziehenden Sucht nach Schönheit auf sich? Wenn ich die Schönheit eines schwarzen Steines auf meinem Schreibtisch sehe, spüre und an mein Herz halte, werde ich ruhig. Wenn ich ein Rosenblatt in Stille von ihrer Blüte fallen höre, mag ich kaum atmen, da mit dem nahezu nicht zu vernehmenden Geräusch des Fallens dieses sterbenden Rosenblattes die Zeit still steht . 

s   é   d   u   c   t   i   o   n

Séduction. Verführung. Illusion.
Die Sucht nach der Schönheit hinter dem Schein, den ich mir zurecht bastle, auf den ich mich einlasse und der mich treibt und treibt.
Das fotografische Bild hilft uns auf fatale Weise, dieser Sucht zu folgen.
Ich erkenne diese Falle der Sinne und kann mich entscheiden.
Ich habe die Macht mich zu entscheiden gegen die Verführung meiner Seele
und für die Freiheit meines Geistes.