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Sklave des Verstandes

Tagebuchblatt  29. Juni 2019

Wenn man denkt, dass man der Körper ist, wird man zum Sklaven des Verstandes und leidet dementsprechend. (Sri Nisargadatta Maharaj)

Schon vor längerer Zeit schrieb ich in meinem Buch Ahnensog über Alter und Tod. Ich hatte in diesem Zusammenhang das Sterben besungen und lamentierend festgestellt, wie wenig die Erziehung unserer Eltern, Lehrer und Pastoren uns einst davon vermittelt hatten. Aber es nützt mir nichts, bei dem Wissen stehen zu bleiben, dass wir in einer Grauen erregend unbewussten Gesellschaft leben und von ihren Vertretern in Elternhaus, Schule, Kirche und Regierung in diesen wesentlichen Fragen nichts lernen können. Es bringt mir keinerlei inneren Frieden im Vorwurf zu verharren.
Das Sterben will ich mir an jedem Tag bewusst machen, an jeder Blume, an jedem Vogelgesang, an jedem Celloton, an jedem poetischen Text, an jedem fallenden Herbstblatt, ebenso an jedem Unglück, an jeder Hässlichkeit, jeder Kritik und jeder Verletzung. Jeglichem Augenblick wohnt das Sterben inne, ebenso huscht ein jeder Moment vorbei und ist nie wieder erlebbar. Aber weiß das nicht jedes Kind und erst recht jeder aufgeklärte Erwachsene? Nein, eben nicht, weit gefehlt. Diese Tatsache wird unterschwellig vielleicht kurz wahrgenommen aber ebenso schnell wieder vergessen. Das ist es ja eben. Trotz dieser Einsicht gehen wir in Furcht durch das Leben und in Angst auf den Tod zu, zumindest in der Tiefe, im uneingestandenen Rumoren der verdrängten Sprachlosigkeit.
Krankheit und Alter gehören wie eine verwelkende Blüte zu den Phänomenen, die das Sterben verdeutlichen. Nicht mehr und nicht weniger. Ist es wirklich so einfach? Ist der siechende Mensch kurz bevor er stirbt, also vom Tode ereilt wird, in Wahrheit mit einem vom Baum fliegenden trockenen Blatt zu vergleichen, oder gar mit einem leise fallenden samtenen Blütenblatt einer verblühenden Rose? Ja, dieser Vergleich muss von mir begriffen werden, das weiß ich. Ich verlange von mir, dass ich mich am Ende meines irdischen Daseins einfach hingebe, so wie ein Herbstblatt durch den leisesten Windhauch sich vom Baum löst und sanft zu Boden fällt, vielleicht auch in einem wilden Herbststurm aufwirbelt und in diesem letzten Chaos mit Freude zu Boden tanzt, oder auch vom Regen durchfeuchtet breit getreten oder vielleicht von einem hungrigen Tier als Mahlzeit verschlungen wird.
Warum, warum nur fällt es mir immer wieder so schwer in den Spiegel zu schauen und zu entdecken, dass ich nun alt bin. Eine Frau mit an sich grauem Haar, von dem ich noch nicht einmal weiß, wie genau es in seiner Natur aussehen würde, da ich es seit langem vom Friseur tönen lasse. Wie angestrengt ich mich um ein weiterhin jugendliches Aussehen bemühe. Wie lächerlich im Angesicht des kurz bevorstehenden Todes vom eigenen Körper. So schön war das Leben nun doch auch nicht, dass es ewig weiter währen sollte?
Wenn ich schreibe, erst recht wenn ich male, dichte, tanze, fühle ich nicht wie alt ich bin. Ich möchte sogar behaupten, ich habe dann kein Alter. Erkenne ich aber im Handeln meines Gegenübers, dass ich eine ältere Frau sein muss, bin ich erschrocken. Dann schaue ich in den Spiegel, muss gestehen und versuche mich darauf einzulassen, dass dieses Bild einer Wirklichkeit entspricht, vor der ich mich fürchte. Und schon beginnt das Desaster, der elende Versuch, sich mit dieser Erwartung zu identifizieren. Ich bin so alt wie ich aussehe und muss mich dementsprechend verhalten. Dieser Prozess ist für die meisten Menschen eine schlichte Tatsache. Sie ahnen oder wünschen keine Alternative. Diese zermürbende Geisteshaltung der Identifizierung mit dem eigenen Körper wird häufig gar verteidigt. So fügen die Menschen sich dem Schicksal, meist mit Hilfe von Drogen, Glauben, Familie oder Vergnügungen ablenkender Art, bis sie nicht selten in Verzweiflung und Verwirrtheit dem Tode mehr oder weniger erliegen.
Aber ich fühle es doch ohne Spiegel an der Wand oder im Gegenüber nicht, dass ich ein bestimmtes Alter habe. Ich fühle mich in meinen Talenten, meinem künstlerischen Tun so frisch wie eh und je! Soll ich mich nun, da ich weiß, dass ich eine alte Frau bin, wie es mir der Spiegel und einige körperliche  Beschwerden verdeutlichen, dieser mental bewiesenen Tatsache entsprechend verhalten? Das kann doch niemals die Wahrheit sein! Natürlich will ich mich nicht künstlich jung halten, es den Jugendlichen gleich tun. Das ist nicht gemeint und entpuppt sich als brüchige Lüge, die du allerorts beobachten kannst.
Ich weiß, dass ich nicht ausweichen möchte. Aber will ich nur die Weisheiten wiederholen, die ich seit Jahrzehnten studiere? Nämlich dass Bilder, wie die im Spiegel, wie die unserer Wünsche für die Zukunft oder die unserer bewahrten Vergangenheit, –zum Beispiel im Wahn der Handy-Fotofluten,– keinerlei Substanz haben? Besitzt das Bild von mir, das ich habe, denn Substanz? Ich weiß, dass es keine andere Chance gibt als endlich und immer wieder neu einzusehen, dass es genau um diese Einsichten geht und dass jeder Versuch, sie zu unterlaufen, vom Ahnensog diktiert wird. Er will mir  einflüstern, dass das Leben nun einmal so sein muss wie es ist und wir uns diesem schalen Dasein mit Freud und Leid, Alter, Krankheit und Tod nun einmal abfinden müssen. Nein, das ist mir viel zu einfach und ich sehe ja, worauf es bei den meisten meiner Mitmenschen hinausläuft, auf ein Ende in Kummer und Leid, in Angst, Missgunst, Aggressivität und Betäubungssucht.
Gib endlich auf, lass den Schmerz los, der nur ein Zeichen deiner Bedürftigkeit ist, verzichte auf das ewig in dir drängende Verlangen nach Ablenkung durch Speisen und Vergnügungen. Verzichte auf die in dir aufsteigende Unzufriedenheit, die sich in Jammern, Streitlust, Kritik und Verurteilung äußert. Entdecke die Süße des Verzichts.
Das Feuer der Wahrheit jenseits von Geburt und Tod, von Gesundheit und Krankheit, von Lust und Leid soll mich führen. Meine Sehnsucht nach der schwarzen Rose soll lodern und niemals erlöschen. In diesem Sehnen will ich tanzen, malen, zeichnen, dichten und mich mit meinem Liebsten an den Gestaden dieser noch schönen Erde nähren.