Tagebuchblatt 10. Juni 2024
Es muss etwas geschehen. Das so genannte Leben ist nicht mehr lang. Und wir wollen doch so sehr gern nicht im Gejammer um das Ende des stofflichen Daseins scheiden.
Gestern holte ich mir ein Buch hervor: Georg Kerner Jakobiner und Armenarzt; Reisebriefe, Berichte, Lebenszeugnisse. A schenkte es mir in den Jahren, als wir beide Georg Kerner kennen lernten, den Fürstenfeind und Menschenfreund, wie Andreas Fritz ihn in seiner politischen Biografie betitelte. Ich beginne zu lesen und sofort fange ich wieder Feuer. Sicher nicht zufällig nach so langer Zeit holte gestern A ebenso ein Buch von ihm hervor, begann darin zu lesen und teilte es mir mit.
Zehn Jahre sind vergangen, seitdem ich Dr. Georg Kerner 2014 meine Verehrung in Ahnensog 2 kundtat. Wie sehr beflügelt ich damals war, als ich meine Blutsverwandtschaft zu diesem herrlichen Freiheitskämpfer entdeckte. Und eben nicht nur diese Tatsache, auf die ich mit Recht stolz sein darf. Es war darüber hinaus für mich eine befreiende Erfahrung, das Feuer, den Tatendrang und den trotzenden Freiheitsgeist von Georg Kerner in der Arbeit von Andreas Fritz kennen zu lernen. Hier fühlte ich mich in meiner Freiheit liebenden Natur erstmals bestätigt. In Ahnensog 2 habe ich in Facetten diesen Freiheitsdrang, meine Unruhe, meine Unzufriedenheit an unserer nahezu als korrupt zu bezeichnenden Staatsführung, an der allgemeinen Ignoranz unseres Volkes wahrhafter Kunst gegenüber u.a.m. geäußert. Mir war dabei immer bewusst, dass ich nicht den Stein der Weisen gehoben hatte. Natürlich liegt die Befreiung unserer Seelen jenseits materieller Belange und Beruhigungen. So schulte ich mich lebenslang am Gedankengut ostasiatischer Weisheitslehren und bin dennoch immer wieder im Tal des Verlassen-Seins, der Öde, des Jammers und der Verzweiflung gelandet.
Nun haben A und ich seit einigen Jahren das Werk Ein Kurs in Wundern gefunden und lesen darin jeden Tag. Diese von Jesus diktierte Schrift ist den östlichen Weisheitslehren sehr verwandt. Geht es doch auch hier um die Überwindung von Angst, Ignoranz, Ödnis, Groll und Hass. Wir erfahren durch diese Arbeit eine lebendige Unterstützung unserer Hinwendung zum spirituellen Leben und der zugleich zwingenden Abwendung von der Glorifizierung des physischen, auf die Sinne bezogenen Daseins. So gesehen sind wir auf einem wunderbaren Weg und könnten ganz in Ruhe sein. Auch haben wir das Ende, Tod genannt, relativ geordnet durchdacht und vorbereitet…
Und dennoch. Seitdem der Körper überdeutliche Signale seines bevorstehenden Endes sendet und du auf Facetten oder Angewohnheiten plötzlich oder etappenweise verzichten musst, ändern sich weise Gedanken. Ängste besetzen dein Gemüt. Vorbilder aus Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, aus Filmen u.a.m. senden dir Bilder, die du gern vergäßest aber denen du unbewusst folgst oder im schlechtesten Falle sogar ausdrücklich nacheifern willst. Es schleicht sich der Ahnensog ein, die fatale Festigkeit seelischer Bindung. Die in deine Seele eingepflanzte Kralle des Taufgelübdes z. B. und vieles andere mehr verwendet dein Ego nur allzu gern, um dir zuzuflüstern, dass dein Heim das dinghafte hinfällige Dasein ist und eben nicht die vollkommene Freiheit, wie Krishnamurti z. B. das pfadlose Land der Glückseligkeit nennt. Für mich spielt die sinnliche Wahrnehmung eine erschreckend große Rolle. Papayi spricht von der Falle der Sinne…, Jesus sagt: Wahrnehmung ist Projektion…
Wir fühlen uns vom Göttlichen bevorzugt geführt und dennoch bin ich in einer Art Dauerkrise gelandet, die mir zuflüstern will, „Mach es, wie wir, deine Ahnen, werde krank, jammere und rufe nach deiner Mama. Du bist jetzt genau im richtigen Alter.“ Dieses Muster der Angst erlebten wir kürzlich bei einigen unserer Verwandten, die zuvor ein durchaus gestandenes selbstbewusstes Leben geführt hatten.
Der Kurs in Wundern kann uns, wie wir zurzeit erfahren, behilflich sein. Über seine Lehre haben wir Gelegenheit, uns an Jesus zu wenden und ihn um Beistand zu bitten. Nicht wie ein bittendes Kind seine Mama oder den lieben Gott. Sondern es geht hier darum, einen sanften liebenden Begleiter um eine andere Sichtweise zu bitten, die der illusionären Beschaffenheit unseres Daseins eine total andere Bedeutung zuschreibt, als die, die wir gewohnt sind und die uns täglich auch von außen aufgedrängt wird. Körper sind Symbole der Angst. Körper lauern auf Angriff. Sie sind süchtig nach Projektion, Hass, Mord und Zerstörung. Der Geist nicht. Er ist in der Lage über den Körper hinausschauen. Für das Ego als „Feind“ repräsentiert er das Symbol der Liebe…
Zurück zum Anfang meines Tagebuchblattes. Dass mir in diesem mich neuerlich so drängenden Zusammenhang von Körper, Angst, Ende usf. mein Ururahn Georg Kerner einfiel. Dass ich ihn und über ihn plötzlich wieder lese. Dass A zu eben demselben Zeitpunkt in seinen Schriften liest. Kerner machte es sich in Bezug auf das körperliche Ende seines Daseins leicht. Durch seine sich aufopfernde Arzttätigkeit hat er sich durch Ansteckung im frühen Lebensalter den Tod geholt.
Was beflügelt mich denn bei dem kleinen Schwaben, meinem liebsten Verwandten, bis heute immer wieder? Er hat zu Fuß und zu Pferde sein Leben kompromisslos den zeitbedingten Gefahren ausgesetzt, um der Befreiung der Menschen zu dienen. Er schrieb zudem ständig Briefe und Reiseberichte. Er hat sich politisch eingemischt und engagiert, dabei nicht selten sein Leben riskiert. Leider sind seine Tagebücher in großer Zahl dem Hamburger Brand zum Opfer gefallen.
Es ist das Feuer eines Rebellen in seinem und in meinem Blut. Wenn ich es auch nicht erreicht habe zu Lebzeiten als Lehrer, in Gesprächen, mit meinen Kunstwerken und Schriften bei den zuhauf seelisch verkümmerten Bürgern unseres Landes anzukommen, so möchte ich doch den Kampf um die Einsicht von Maya gewinnen. Und dieses Feuer in meinem Blut nicht vorzeitig zu löschen, nicht aufzugeben, sich nicht umzuschauen, den Rubikon, wie G. Kerner sagt, zu überqueren, das ist es, woran ich mich heute erinnern will. Es ist eine geistige Entscheidung. Diese Energie für die weitere Erarbeitung von EKiW zu verwenden, die mich und A zur Befreiung des Geistes führen wird, dorthin, wo es keinen Tod gibt. Die Stille wird dann in Form von Glut und Asche auch weitere Menschen beflügeln sich von der Verführung der Sinne abzuwenden und den rechten Pfad des Himmels einzuschlagen.