Buch

Videostills 2

Videostills 2

Taschenbuch, 456 Seiten, durchgehend farbig
Größe: 19,2x 3x 27cm
Verlag: Books on Demand. Auflage 1, Sept. 2019
ISBN: 9 783746 098210

 

Videostills

In zwei Tagen ist das Jahr vorüber, ein neues wird beginnen und enden, dann so weiter, einige Male, und das so genannte Leben ist abgelaufen. Es liegt auf der Hand, dass es etwas geben muss, das größer, umfassender, profunder ist als dieses kleine kurze Dasein eines einzelnen Menschen. Warum sonst bemühen wir uns so sehr, den Schrecken und das Leid zu besiegen und warum liegt uns so daran, seelisch zu wachsen? Wir ahnen, dass in diesem Unbekannten ein Zauber liegt, eine Art Trost oder mehr, vielleicht Frieden, gar eine beständige Glückseligkeit? Obwohl wir uns immer wieder vor der möglichen Erkenntnis dieser Wahrheit drücken, wissen wir um den Schatz, schon wenn wir nur darüber nachdenken, oder besser noch, wenn wir umschalten auf die Ebene hinter den Dingen. 
Wie z. B. beim Schreiben im Café. Die Feder tanzt, die Worte fließen, die Leute um mich herum schwatzen, die Musik läuft. Die Zeit umfängt uns rennend, unterlegt unseren Alltag wie ein Laufband, das uns fortwährend von der Vergangenheit in die Zukunft transportiert. Und wie seltsam angenehm, so spüre ich während ich schreibe, all dies innerhalb eines deutlich wahrzunehmenden Raumes, der von keinem zeitlichen Konstrukt und auch durch sonst nichts berührt wird. Nicht beeinflussbar steht er uns zu Gebote wie eine stille Rose und wartet  darauf, von uns betreten zu werden. Wagen wir diesen kühnen und zugleich so leichten Schritt, der sich hin und wieder wie von selbst ergibt, stellt sich Schönheit ein, Stille jenseits des Lärms, Weite hinter der Bedingtheit jeder Identifikation, die liebevoll belächelt werden kann wie ein unmündiges Kind. Wenn ich mich zu diesem Raum bekenne, ist es ähnlich wie am offenen Meer, in den weißen Bergen, in sanften Tälern, auf grünen Wiesen oder im Schatten der Wälder. Allerdings ist auch die Natur in all ihrer wunderbaren Schönheit doch wieder nur ein Spiegel meiner Sehnsucht und meiner Sorgen, und es ist nicht damit getan, sich in ihr aufzuhalten.
Hier im Café ist die Umgebung chaotisch, bunt, unruhig, ungeordnet, menschlich verzerrt und ruft im Gegensatz zur Natur auf, sich nicht parallel sondern konträr zu ihr zu konzentrieren. Und genau dazu hilft mir jetzt das Schreiben. Die Geräuschkulisse um mich herum ersetzt meine eigene innere Geräuschkulisse der Gedanken und übernimmt eine Art dämpfende Aufgabe; sie entbindet mich sozusagen der eigenen Störung. Mit dem Ansetzen des Stiftes und der Gleichzeitigkeit des Wortflusses, der aus der Tiefe aufsteigt, geschieht mir der absichtslose Eintritt in den stillen Raum. Beim Aufschauen sehe ich meine Umgebung jetzt wie einen kosmischen Reigen vor dem geistigen Auge, und das sonst leicht entstehende Fremdgefühl durch allerlei Identifikationen und Bespiegelungen wird zu einem freundlichen Distanzgefühl. Dieses angenehme Phänomen wird unterstützt durch die große Frontscheibe, die bis auf den Gehweg herab gezogen ist und die Passanten von rechts nach links und von links nach rechts sichtbar vorbeiziehen lässt. Diese fließende horizontale Bewegung, für mich unhörbar hinter der Scheibe, ergänzt das eher chaogene laute Geschehen des Innenraums und rundet es irgendwie ab. Die Vielschichtigkeit wird durch meine Wahrnehmung wie von selbst gestaltet und ausdifferenziert. Ein inneres Lächeln begleitet jetzt mein Dasein. Während ich all dies wahrnehme und zugleich schreibe, bin ich all den suchenden und leidenden Mitmenschen um mich herum sehr zugeneigt. Ich las bei einem der Weisen, dass die reife Innenschau sich durch Mitgefühl auszeichnet. Wenn es doch nicht nur während des Schreibens sondern immer so wäre!
Heute möchte ich über meine Video-Tagebücher schreiben, die meine eigene Kunstproduktion begleiten. Vielleicht nehme ich das nächste Mal meine Kamera mit und stelle sie unmerklich in dieses Ambiente. Die Aufnahme dieser Situation des Schreibens im Café wäre ansich angesagt, da das Schreiben seit längerer Zeit zu meinen  künstlerischen Ausdrucksformen zählt. Die mit einer kleinen digitalen Fotokamera seit etwa zwei Jahren gedrehten Videos setzte ich bisher immer in der gleichen Art ein:
Meine Wohnung ist der Ort des Filmgeschehens fast aller Videos. Ich nenne mein zu Hause Galeriewohnung, da sich hier die meisten meiner Arbeiten befinden und bei Interesse angesehen werden können, oder auch Atelierwohnung, da ich in ihrem Atelier an meinen Hauptwerken arbeite und teilweise hier auch wohne. Die Videos umkreisen hier mein Leben mit der Kunst. Sie beleuchten meine künstlerische Produktion, die Zeit vor oder nach Entstehung der Leinwand- Bilder. Sie orten, erden, zentrieren mich und setzen mich frei für anstehende Werke. Sie lassen brennende Fragen in den Brunnen der Erkenntnis fallen. Sie stellen oder beantworten Fragen. Sie geben mir Handlungshinweise und manchmal beruhigen oder verlangsamen sie ein zu schnelles Tempo meiner künstlerischen Arbeit. Die Videos entheben mich tosender Gedanken und zwingen mich zum genauen Hinschauen ohne allzu genau hin zu sehen. Sie flüstern mir Wahrheiten zu, die ich ohne sie nur erahne und durch sie plötzlich erkenne. Sie machen mir Spaß und erlauben mir, meine Liebe zur optischen Welt phantasievoll zu händeln. Sie geben mir Gelegenheit, Dinge ernst zu nehmen, die mir keine Ruhe lassen, ohne mich zu verfangen. Durch ihren spontanen Einsatz bremsen sie meine sich anbahnende Identifikation aus und erlauben mir, diese Gefahr rechtzeitig zu bannen. Sie dienen mir dazu, Motive vollkommen intuitiv einzufangen, vor Freude, aus Liebe, aus Kummer, vor Schmerz, in Not oder Leid. 
Bei dieser Filmerei, dem Drehen der Videos, entstehen seltsam schöne, mich reizende Bilder, wie ich beim erneuten Ansehen dieser kleinen Filme feststelle. So begann ich kürzlich, Einzelbilder auszudrucken, Filmstills zu erstellen. Kurze Titel oder  Bezeichnungen mit hin und wieder knappen zeichnerischen Zutaten schließen die Blätter ab, die dann in eine Mappe wandern. Am besten gefallen mir diese eher armen Bilder in ihrem rohen Zustand als einfache ausgedruckte Din-A4 – Blätter von schlichter Qualität. Zum Schutz stecke ich sie in Klarsichthüllen, was mir eigentlich überhaupt nicht gefällt. Aber sie sind in ihrer Art sehr fragil und eben doch Originale. Sie würden sich kaum in derselben Art erneut herstellen  lassen, da die geringe und eher zufällige Druckqualität jedes Mal unterschiedliche Ergebnisse hervorbringt. Die vom Drucker vorgegebene Farbwelt,- auch Fehldrucke sind mir sehr willkommen,- wirft immer wieder überraschend unvorhergesehene Ergebnisse aus. So wird eine vom vorangegangenen Filmen her unterschiedliche Auffassung des gefilmten Sujets herauf beschworen, was mich derart fesselt, dass ich fast süchtig  nach dieser Tätigkeit mit den Videostills bin, und noch gar nicht genau weiß, warum eigentlich. Ich mach’s erst einmal, es wird mir dann später ein Licht aufgehen. 
Es ist eine eigenwillige Auseinandersetzung mit den Bildern der so genannten Wirklichkeit, die ich gerade eben erst erlebt und gefilmt habe. Der Umgang mit ihnen unterstreicht die mich ohnehin faszinierende Fragwürdigkeit des fotografischen Abbildes. Es entsteht etwas Geheimnisvolles bei dieser spielerischen Verarbeitung der Bilder, die ich aus dem Fluss ihres zeitlichen Daseins heraus nehme. Hier geschieht etwas Unerwartetes, was mit Maya, dem Schein unserer Realität, zu tun hat.
H. hat großes Vergnügen an den Stills.  Als Wahrheitssucher bietet ihm ein eher unausgesprochener Abdruck der äußeren Wirklichkeit mehr Aufklärung über sie als die gemeinhin bekannten Schnappschüsse. Er meint zu meinen Videostills, die er sich langsam und fast zärtlich anschaut: Diese Bilder sind näher an der Zeitlosigkeit dran, beinahe wie ein Lebenshauch einer flüchtigen Begegnung.
Es ist nun nicht meine Idee, Stills ernst zu nehmen. Filmstills gibt es schon solange wie es Filme gibt. Wer kennt nicht das letzte Bild aus Casablanca mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann, oder viele andere Stills mehr, früher oft für die schönen alten Filmplakate eingesetzt. Auch in der Bildenden Kunst der Moderne sind sie von Bedeutung, z. B. für Bill Viola, dem führenden Vertreter der Videokunst oder auch für Pipilotti Rist. An all das dachte ich keineswegs, als ich zur kleinen Kamera griff, um mit ihr Tagebuch zu schreiben. Es ist  faszinierend, wie plan- und absichtslos plötzlich eine künstlerische Tätigkeit entsteht, sich einfach ergibt. Auf einem Mal arbeitest du unwissentlich thematisch oder/ und technisch ähnlich wie deine Zeitgenossen, weißt aber augenblicklich noch nicht genau, warum. Modeerscheinung? Ernst zu nehmender Trend? 
Die Videostills haben es mir vorerst angetan. Ich sammle sie wie feine Schmetterlinge. Ebenso  die entsprechenden Tagebuch-Videos, Filmchen von 5- 11 Minuten Länge, die ich auf CD- Roms sammle.
Gern würde ich einmal die Videos in einem nicht ganz verdunkelten Raum abspielen. Einfach im Original mit deren Musik und gesprochenen Texten. Ich stelle mir das Vorführen dieser Kurzvideos nur für Liebhaber vor, also evtl. in einer entlegenen Ecke einer Ausstellung. Sozusagen als Hintergrundmusik für meine Malerei, die mehr Masse zu bieten hat und sich an eine größere Betrachtergruppe wendet. Die kleinen Filme haben naturgemäß einen eher erzählenden Charakter, was sie stark von den meisten meiner Bilder unterscheidet. Zusätzlich würde ich die Videos gern im Zeitraffer zeigen, quasi an dem Betrachter vorbei rauschen lassen. Diese mich in der Vorstellung faszinierende Variation ihrer Vorführung dann in einem komplett schwarzen und sehr kleinen Raum, wie in einem Kasten. 
Eventuell müssen die Videos auch gar nicht betrachtet werden, wenigstens nicht solange ich lebe, da sie Tagebuchcharakter haben und (noch?) vollkommen unbehandelt sind. Da ich allerdings extrem gern mit ihnen und ihren Stills arbeite, will ich sie ernst nehmen. Es kann ja nur heißen, dass ich mit diesem kleinen Werk ganz nah an der Zeitlosigkeit bin, die sich durch mich ausdrücken möchte. Und daher ist es meine Pflicht solange darin weiter zu machen, wie dieses brennende Interesse eben da ist. Was sie mir in der Tiefe bedeuten und warum sie mich derartig treiben, weiß ich noch nicht. Allerdings erhellen sie mein Dasein, geben mir Halt und entfachen große Vitalität.
Louis Malle hat einmal gesagt, er habe über das Filmen zur Wirklichkeit gefunden. Vielleicht hilft mir das Geheimnis der Videos und der Stills bei der nicht ruhenden Frage Wer bin ich.
Die Faszination dieses Mediums, das besonders bei Nichtkünstlern verbreitet ist wie nie zuvor, hat sich der trivialen, massenhaften Verbreitung zum Trotz nicht abgenutzt. Die Zeit von der fotografischen und filmischen Bildaufnahme bis zu seiner Wiedergabe und Betrachtung hat sich auf ein Minimum reduziert und kann nur noch durch ein Augenzwinkern oder das Wegwerfen der Kamera getoppt werden. 
Speichern, Ordnen und Sammeln von Fotos, besonders von Reise und Familie, gingen und gehen bis heute nicht selten mit Stolz einher und gewähren trügerische Sicherheit. Das Betrachten alter Fotografien macht meist elegisch. Unsere Angst vor dem Tod bewirkt Verhaftung mit der Vergangenheit und erzeugt Sentimentalität, Schmerz und Leid. Hier liefert die Fotografie leichtes Spiel. 
Wenn sich aber junge Puppen einer Mädchengruppe hier im Café mit dem Handy  fotografieren und sofort danach in eben diesem Bild voller Freude anschauen, sind sie nach dieser kurzen Tätigkeit heiterer als zuvor. Sie lächeln als hätten sie sich selbst hinters Licht geführt…, oder sich der Schwere des Daseins einfach über das flüchtige Bild enthoben? 
Video   ich sehe, still   sei einfach still.

 

Vorwort/ Tagebucheintrag vom 29. 12. 2008